Identitätslinke

Ich habe absolut nichts dagegen, wenn sich Menschen durch ihre individuelle, meinetwegen auch sexuelle Identität, selbst verwirklichen und das politisch thematisieren wollen. Problematisch wird es, wenn alle anderen, urprünglich einmal linke Ideen dadurch verdrängt werden. Was ist wichtiger für ein empathisches, friedliches und demokratisches Zusammenleben?

1.) Wie man Ureinwohner/Natives/Indianer nennen darf (und soll) oder dass sie heute, im Jahr 2022, einen besseren Zugang zu Bildung, fruchtbaren Böden und Sozialer Gerechtigkeit haben?

2.) Die richtige Haltung zeigen und das richtige Bekenntnis ablegen oder freie Debattenräume und den Mut aufbringen, sich die Meinung Andersdenkender auch anzuhören?

3.) Rassistische Begriffe aus Kinderbüchern verbannen oder bis heute bestehende, neokolonialistische Wirtschaftsverträge, von europäischen Staaten und Konzernen mit afrikanischen Ländern auflösen?

4.) Das alle Kinder früh lernen sollen, dass sie sich ihr Geschlecht selbst aussuchen können oder das sie nicht mehr in Armut aufwachsen müssen?

5.) Mehr Frauenförderung und Frauenquoten bei Konzernvorständen durchsetzen oder bessere Arbeitsbedingungen, Arbeitnehmerrechte und Gehälter für alle Lohnarbeiter?

Statt also die Welt für alle (!) gerechter und friedlicher machen zu wollen, schauen die Wokisten narzisstisch nach innen. Neoliberale Banken, Milliardäre und Konzerne finden das gut.


Die identitätsgetriebene Linke

Peter Grottian ist tot.

(Bild: Picture Alliance)

Professor Peter Grottian war nicht nur Politikwissenschaftler an der FU Berlin, am Otto-Suhr-Institut (OSI), sondern auch ein linkspolitischer Aktivist. Er wurde 78 Jahre alt. Bis zuletzt kämpfte er für eine bessere Welt, gegen neoliberalen Privatisierungswahn und dafür, dass sich Menschen analog miteinander vernetzen. Er war in vielen politischen Bewegungen aktiv. Unter anderem bei: »Initiative Berliner Bankenskandal«, »Komitee für Grundrechte und Demokratie« sowie bei »Freiheit statt Angst«. Seine Schwerpunkte an der FU Berlin waren vor allem soziale Themen, Kritik gegen den Neoliberalismus, Protestbewegungen sowie Grund- und Menschenrechte. Ihm war es immer wichtig, »seinen Arsch hochzubekommen«. Gegen »Agenda 2010«, gegen »Hartz 4« und für eine gerechtere Welt. Vor rund 15 Jahren hatte ich die Gelegenheit ihn persönlich kennenzulernen. Weiterlesen

Sprachlosigkeit

»Das Problem aller gegenwärtigen Propaganda ist, dass man dem Imperialismus, der mehr Grund zu Vorwürfen bietet als jede Gesellschaftsform sonst, gar nichts vorwerfen kann: weil ihm gelungen ist, den Leuten alle Kriterien für recht und unrecht, wahr und falsch, schön und hässlich aus den Hirnen zu waschen. Nichts gilt mehr, und wie argumentieren, wo nichts gilt? Das Waschmittel ist der Positivismus, die Wäscherei das Fernsehen. Es gibt Ausbeutung, es gibt Elend, es gibt Arbeitslosigkeit, es gibt Verweigerung von Gesundheit, es gibt Mietwucher, es gibt Bürokratie, es gibt die Gewohnheit der öffentlichen Lüge, es gibt Krieg. Alle wissen es, keiner bezweifelts, und keinen störts.«

(Peter Hacks, Schriftsteller)

Anmerkung: Die breite Masse will keine echten Veränderungen. Sie wollen schnulzig-schmalzige Popsongs (2,5 Milliarden Aufrufe), dümmliche Casting-Shows sowie Pseudo-Social-Doku-Soaps, Gehirn-Aus-Superhelden-Filme und einen weltverleugnenden Biedermeier Familien-Bunker, wo sie den Rest der Welt ignorant von sich schieben können. Solange das so bleibt, werden Aufklärer zu Querulanten und wird Unrecht zu Recht.


Massenindividualität
Die Leidenschaften der Masse

Keine Armut. Nirgends.

Wir reden über Gender, aber nicht über Armut.
Wir reden über Bildung, aber nicht über Armut.
Wir reden über Inklusion, aber nicht über Armut.
Wir reden über Ernährung, aber nicht über Armut.
Wir reden über Klimaschutz, aber nicht über Armut.
Wir reden über Feminismus, aber nicht über Armut.
Wir reden über Digitalisierung, aber nicht über Armut.
Wir reden über Nachhaltigkeit, aber nicht über Armut.
Wir reden über Rechtsextremismus, aber nicht über Armut.
Wir reden über Fake News, Populismus und Verschwörungstheorien, aber nicht über Armut.

Hauptsache, wir haben Themen, bei denen wir uns produzieren und profilieren können. Aber sie dürfen nicht die Besitz‑, Eigentums- und Verteilungsfrage berühren. Das sind gottgegebene Strukturen, die es nicht zu hinterfragen gilt. :jaja:


Keine Sklaven. Nirgends.

Klassenbewusstsein?

Es herrscht Klassenkampf und meine Klasse gewinnt, aber das sollte sie nicht.“
Warren Buffet, Milliardär

Eine der primären Aufgaben des Neoliberalismus war und ist die Zerstörung der Arbeiter-Identität. »Teile und Herrsche« — Machtmechanismen hetzen die Menschen medial regelmäßig gegeneinander auf. Die Solidarität der Entrechteten wird schon im Keim erstickt. Gruppen werden gespalten und dort, wo es keine gemeinsamen Ziele, Interessen oder Ideologien gibt, wird die Mann/Frau-Sexismus-Karte gezückt. Die funktioniert fast immer, weil sich jeder durch das biologische Geschlecht, hier als Experte sieht und etwas dazu sagen darf, kann, soll, muss.

Es ist insofern absolut nicht verwunderlich, dass es keine großen Protest-Aktionen, Streiks oder Widerstände in der Bevölkerung gegen kriminelle Banken, Konzerne, Milliardäre und die Politik gibt. Viele sind sich der schreienden Ungerechtigkeit durchaus bewusst ‑oft spüren sie es sogar am eigenen Leib- aber dennoch sehen sie sich als Einzelkämpfer. Die Nachbarn als Störenfriede. Die Kollegen als Konkurrenten. Und die Mitmenschen als Objekte für die eigenen Interessen. Ohne ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein kann es keinen erfolgreichen Protest gegen die Herrschenden geben.


»Rechte und Linke sind uns egal!«
»Anleitung zur Ausbeutung«
»Herrschaftsprinzipien«

Die Gerechtigkeitslücke

  • Wer einen Menschen tötet, ist ein Mörder. Wer 1.000 Menschen tötet kommt ins Fernsehen.
  • Wer 500 Euro Steuern hinterzieht wird strafrechtlich verurteilt. Wer dem Finanzamt Millionen Euro Steuern vorbehält, wird politisch beschützt.
  • Wer 10.000 Euro im Kasino verliert, ist ein spielsüchtiger Versager. Wer Milliarden verzockt, ist systemrelevant und wird vom Staat »gerettet«.
  • Wer seinen Mitmenschen oder dem Chef nicht die Wahrheit sagt, ist ein Lügner. Wer in der PR oder der Werbung arbeitet, täglich Millionen Menschen belügt und betrügt, ist ein Marketingexperte.
  • Wer schwarz fährt und häufiger nicht bezahlt, kommt ins Gefängnis. Wer millionenfachen, weltweiten Abgas-Betrug betreibt, wird erst gar nicht verurteilt.

Ach ja: wer solche Zusammenhänge herstellt, ist ein lupenreiner Populist! :jaja:

Plutokratie. Neofeudalismus. Oligarchie.

»Generell wissen wir wenig über den Zusammenhang zwischen der Verteilung von Vermögen und der Frage, wie gut demokratische Institutionen in einem Land funktionieren. [...] Ökonomisch gesehen ist außerdem eine bessere Wettbewerbspolitik notwendig. [...] Die Politik muss sich darauf vorbereiten, dass die Vermögenskonzentration auch in Deutschland irgendwann korrosiv auf unser politisches System wirken könnte.«

- Rüdiger Bachmann. »Feudale USA«. Auf: zeit.de vom 27. Januar 2018

Anmerkung: Einfach behaupten, man kenne keinen Zusammenhang zwischen Vermögen, Macht und politischen Einfluss und schon kann man von Demokratie reden, aber in Unternehmen, Banken und Konzernen den Neofeudalismus leben. Dann macht auch das neoliberale Wundermittel »mehr Wettbewerb« wieder Sinn. »Irgendwann korrosiv« klingt wie »die Schere zwischen arm und reich wird immer größer« — Nein, verdammt noch mal! Es ist jetzt so! Im Hier und Jetzt. Heute! Das die Politik sich »darauf vorbereiten« müsse, klingt wie eine Drohung: den Unmut im Keim ersticken! Militär im Innern einsetzen. Überwachung ausbauen. Strafgesetze verschärfen. Meinungsdiktatur durchsetzen.


» »Narrative Legenden«
» »Anleitung zur Ausbeutung«
» »Zehn Punkte-Plan«

Anstand kostet!

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©epikur (eigenes Werk)

Wer sich sein Gewissen, seine Fairness, seine soziale Gerechtigkeit und sein Mitgefühl bewahren will, muss dafür mit harter Währung bezahlen! Die meiste Kohle macht man, wenn man skrupellos, rücksichtslos und egoistisch ist. Wer sich scheut, auch mal bigott, verlogen und korrupt zu sein, wer nicht professionell lügen kann und will (Marketing, PR, Vertrieb etc.), wer Mühe hat, die eigene Selbstentfremdung nicht als Selbstverwirklichung zu verdrehen — der wird niemals eine steile berufliche Karriere hinlegen können! Weder in der Automobil- oder Pharmaindustrie, in einer Bank, noch in einem Konzern oder irgendeiner anderen Branche, wo man richtig Geld verdienen kann.

Nächstenliebe, Empathie und Mitgefühl sind ökonomisch gesehen nicht nur wettbewerbsschädigend, sondern schlicht nichts wert. Ja, zur Aufrechterhaltung der Arbeitsmoral und zur Mitarbeiterführung wird ein wenig Sozial-Klim-Bim betrieben und/oder gelegentlich gemenschelt. Auch werden die Ideale von Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, rücksichtslos ausgebeutet — all das wird aber nicht mit Euros vergütet. Es spielt zudem in der Management-Ebene, in der Finanzindustrie und auf politischer Ebene kaum eine Rolle. Was zählt, sind Quartalsberichte, Dividenden und Profite. Und weil sich Anstand schlicht nicht rentiert, sondern nur Kosten verursacht, wird auf ihn weitestgehend verzichtet.


» Die ganz normale Ungerechtigkeit
» Marktgerechtigkeit und Verwertungsmoral
» Ohne Haltung

Reichtumsgerechtigkeit

»Die in Leistungsgesellschaften durch die unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten der Menschen erzeugte soziale Ungleichheit lässt sich langfristig nur durch eine hinreichende Fairness des Wettbewerbs rechtfertigen, vor allem durch die Gleichheit der Ausgangschancen

Berthold Franke. »Aus Angst wird Wut wird Hass«. Blätter. Ausgabe Juni 2017. S. 97

Anmerkung: Bei solchen Sätzen frage ich mich ernsthaft, auf welchem Planeten, in wechem Elfenbeinturm und in welcher Filter-Bubble die Herren Akademiker eigentlich leben!? Ist es (leistungs-)gerecht, dass 62 Supereiche soviel besitzen, wie die Hälfte der Weltbevölkerung? Wo, außer in der Theorie, gibt es denn überhaupt einen »fairen Wettbewerb«? Wie kann es jemals »gleiche Ausgangschancen« geben, wenn weltweit Millionen Kinder in bitterer Armut aufwachsen, während sich die Reichen in ihren »Gated Communities« verschanzen? Wie kann Bildung überhaupt die Lösung für alles sein, wenn neofeudale Strukturen vorherrschen? Wo ist die Eigentums- und Verteilungsfrage? :nene:

Die Dunkelheit trinken

Wenn man ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit und Respekt für den anderen hat, kündigt man jeden Job in den ersten fünf Minuten. Also kämpfe ich gegen mich selbst und akzeptiere die Herrschaftsbeziehungen.“

Mustapha Belhocine, „Mein erster Job im Jobcenter“. Le Monde Diplomatique. Mai 2015. S. 21

Anmerkung: Wenn mich jemand danach fragt, was die wenig greifbare Redewendung von Selbstentfremdung durch Lohnarbeit eigentlich konkret bedeuten soll, dann trifft es das obige Zitat in knappen Worten ziemlich genau.