Die identitätsgetriebene Linke

Die politische sowie bürgerliche Linke ist erfolgreich von innen zersetzt worden. Analytische Kritik an strukturellen Gewalten, an sozial ungerechten Ursachen und an neoliberalen Kontexten, sind weitestgehend aus dem Fokus linker Perspektive verschwunden. Korruption, Welthunger, Kriege, Waffenhandel, Neokolonialismus oder Armut interessieren kaum noch. Der Blick auf die Welt ist nun vor allem ein narzisstischer Blick nach innen: Sprachnormierung, Gender (LBQ/SJW/Diversität), Ernährung (vegan/bio/öko) und mobile »Eigenverantwortung« (Fahrrad, Elektro-Auto) bestimmen die Diskurse. In dem naiven Glauben, mit dem Einkaufswagen die Welt retten zu können, hat sich die politische und bürgerliche Linke von den neoliberalen Gangstern einseifen lassen.

Was ist Identität?
Sascha Nicke beschreibt »Identität« auf der Bundeszentrale für politische Bildung, als einen Prozess der durch Normen, Rollenmuster, Praktiken, Gesetzlichkeiten und Sprache geformt wird. Sie sei keine feste Größe, sondern eine wandelbare Zuschreibung, in denen sich Menschen, Gruppen, Kulturen oder Nationen über verschiedene Werte definieren. Wikipedia versteht die Identität als Charakterisierung von Personen, dessen Merkmale im Selbstverständnis von Individuen oder Gruppen als wesentlich erachtet werden. Heiner Keupp auf spektrum.de verweist zudem auf den Aspekt der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Sie sei ein »Akt sozialer Konstruktion« und stelle immer eine Kompromissbildung zwischen Eigensinn und Anpassung dar. Diese ideologische Versöhnung zwischen Subjekt und Gesellschaft hat Adorno schon vor über 50 Jahren kritisiert:

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«

Wenn staatliche, institutionelle und gesellschaftliche Strukturen und Hierarchien weiterhin durch Entfremdung, Ausbeutung, soziale Ungerechtigkeit, Armutsproduktion und Ausgrenzung geprägt seien, sei die subjektive Sinnerfüllung durch eine individuelle Identitätsproduktion eine bigotte Illusion. Der Rückzug ins Private banalisiert die herrschenden neofeudalen Herrschaftsmethoden. Einem Unternehmen oder »Arbeitergeber« kann die individuelle Identität, die Hautfarbe, die Religion, die sexuelle Ausrichtung, die politische Einstellung oder das »gewählte Geschlecht« eines Mitarbeiters völlig gleichgültig sein, solange der Profit stimmt, die Eigentumsverhältnisse und die herrschenden Strukturen unangetastet  bleiben.

Identitätsproduktion
Im Social-Media-Zeitalter gibt es Identitäten wie Sand am Meer. Rainer Mausfeld hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es heute eine regelrechte Industrie der Identitätsproduktion gebe. Marken werden als Identitäten inszeniert (Apple, Google, Adidas etc.), von derem Glanz sich der einzelne Konsument eine Scheibe abschneiden möchte. Wer beispielsweise Nike-Kleidung trage, sei nun besonders sportlich. Wir seien letztlich »fragmentierte Kompetenzbündel«. Menschliche Waren und Objekte, die sich selbst zu optimieren haben sowie die Fremdausbeutung in Selbstausbeutung transformieren sollen (»lebenslangens Lernen«). Der Kern des Ichs sowie der Mensch, der Charakter soll sich vor allem auf dem Markt behaupten, sich also verkaufen und/oder als Arbeitskraft anbieten.

Der Begriff »Authentizität« ist hier mittlerweile komplett verbrannt worden. PR- und Marketing-Soldaten haben ihn ins Gegenteil verkehrt: authentisch sei, wer sich marktkonform verhalte und eben nicht, wer auf seine ureigene Stimme hören würde. Spontanes, kreatives, uneigennütziges und schöpferisches Tätig- und Aktivsein ‑wie es Erich Fromm und zahlreiche Philosophen als Weg zum Glück verstehen- wird von Marktradikalen zur überflüssigen Esoterik verklärt. Mit der Identität verhält es sich ähnlich. Wer Hobbys, Meinungen, Einstellungen, Werte oder Lebensvorstellungen hat, die auf dem gesellschaftlichen und sozialen Parkett wenig erwünscht sind, gilt schnell als überflüssige Ballastexistenz.

Linke Identitätspolitik
Die Anliegen von vermeintlich diskriminierten Minderheiten, sich für mehr Toleranz und Akzeptanz einzusetzen sowie ihre Interessen in die Öffentlichkeit zu bringen, scheint zunächst ein positiv konnotiertes Vorhaben zu sein. Das Problem ist nur, dass hierbei soziale Fragmentierung begünstigt, die Opferhaltung kultiviert wird und gleichzeitig auch Gruppen ausgegrenzt sowie stigmatisiert werden (»Männlich. Weiß. Hetero.«). Echte zwischenmenschliche Solidarität, jenseits von Gruppen- und Lagerdenken, wird somit erheblich erschwert. Die Selbstdefinition über die jeweilige Gruppenzugehörigkeit, blockiert das freie Denken und installiert Tabus sowie Denkverbote, die in der jeweiligen Gruppe sozial erwünscht sind.

Die Opfer-Täter-Diskurse sind im Kern nicht progressiv, sondern begünstigen den Status Quo nur mit anderen Vorzeichen. Es ändert nichts an weltweiter Ausbeutung, Hunger oder Korruption, wenn nun beispielsweise mehr Frauen in Konzernvorständen sitzen, mehr farbige Menschen US-Präsidenten werden oder mehr Transgender-Politiker im Parlament arbeiten würden. Die ständige Suche nach Tätern statt nach friedlichen Lösungen, schafft ein zwischenmenschlich aggressives Klima.

Linke Politik sollte sich wieder mehr nach Inhalten, statt nach Identitäten richten. Der produktive Streit um Ideen und konstruktiven Lösungsansätzen, sollte nicht durch eine Bio-Gender-Feminismus-Vegan-Debatte ersetzt werden, bei der es vor allem um individuelle Befindlichkeiten geht.  Nur leider ist das Lieblingsprojekt der Linken ‑egal welcher Splittergruppe zugehörig- populärer denn je: die Beschäftigung mit sich selbst. In der Identitätspolitik ‑die im Kern der neoliberalen Eigenverantwortung entspricht- fühlen sich daher viele Linke pudelwohl. Der typische Einseifungsspruch lautet hier: »Du kannst die Welt nicht ändern. Du kannst nur Dich selbst ändern!« So wird Fatalismus und Resignation in die Köpfe gehämmert. Denn es ist sehr wohl so, dass wir gemeinsam die Welt verändern können!


Selbstinszenierung
»Rechte und Linke sind uns egal!«
Neusprech: Authentisches Marketing

7 Gedanken zu “Die identitätsgetriebene Linke

  1. In den letzten Sätzen liegt das eigentliche Problem. Die heutige sich selbst als progressiv oder links verstehenden Menschen halten es für ausgeschlossen, dass sich die Gesellschaft grundlegend verändern lässt. Ohne es sich wirklich einzugestehen, geht ein unglaubliche Mehrheit davon aus, dass der Klassenkampf verloren ist. Dies wird sich durch die Intellektuellen nicht ändern, da diese auf Ideologien ausweichen können. Wer ideologisch (moralisch) fordert und handelt, braucht die Verhältnisse nicht ändern (irgendwie frei nach Herbert Marcuse).
    Dies kann nur durch aufgebrochen werden, durch den Kampf von unten und die Solidarität mit allen Unterdrückten.
    Ein Kritikpunkt:
    Du schreibst von »Anliegen von vermeintlich diskriminierten Minderheiten«. Dem »vermeintlich« möchte ich widersprechen. Das »Teile und Herrsche« klappt deshalb so gut, weil es ständig zu Diskriminierungen von abgrenzbaren Gruppen kommt. Mal die einen, dann wieder die anderen. Das Problem der »Identitätspolitiker« ist nicht, dass sie Ausgrenzung und Unterdrückung erfinden, sondern dass sie die Gesamtheit der Unterdrückung nicht erkennen. Daher sind ihre Maßnahmen auch in der Regel herrschaftsstützend.

  2. Das ist Deutschland hier. Auch viele Linke sind da halt rechts. Das liegt an der eichmännischen Erziehung und geht so munter weiter, wie bisher, es sei denn: Man würde die Erzieher köpfen.

    Jede dämliche, deutsche Drecksklitsche ist als Privatdiktatur die Reinkarnation der Colonia Dignidad (https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/wdr-dok/video-colonia-dignidad-aus-dem-innern-einer-deutschen-sekte-100.html) mit dem antiamerikanischen Kernleitthema: »Always fistfuck in your job!«
    Du willst Frieden? Dann verbrenne alle CEOs und enteigne ihre Erben! Vorher wird das nix.

  3. Es ist schon etwas länger her, da ging ich in den Fluren eines Universitätsgebäudes an einem schwarzen Brett vorbei, auf das nebst den üblichen »Biete-Korrekturlesen-etc.«-Zetteln ins Auge springend ein Plakat mit dem Aufruf zum »internationalen Frauenkampftag« o.ä. angebracht worden war. Davor wunderte sich ein Grüppchen von (wahrscheinlich) Medizinstudentinnen, inwieweit sie Adressatinnen dieses Kampfaufrufes seien, auf dem eine militant maskierte Dame mit nach oben gereckter Faust abgebildet war.

  4. @epikur: Volltreffer, gute Zusammenfassung unserer scheinlinken Opposition! Die sind sowas von neoliberal unterwandert, dass es zu keiner Problemlösung mit dieser mehr kommen kann. Spaltung der Opfer in ideologisch genehm und verloren ist deren Aufgabe. So tun sich die vom System zerriebenen niemals nicht zusammen und der Platz an den Pfründen und Töpfen des Kapitals kommt in erreichbare Nähe.
    Besonders perfide — die Rolle dieser sog. Gewerkschaften!
    Solch Vertreter braucht kein Schwein...

  5. Ich habe mich schon lange von dem Gedanken verabschiedet, dass es eine homogene Massenidentität geben könnte. Je länger ich darüber nachdenke, um so unmenschlicher scheint mir diese Idee.

    Jeder Mensch kann gleichzeitig viele Identitäten in sich vereinen. Welche er dann wann, wo, warum präferiert ist nicht eindeutig bestimmbar. Er wird versuchen, sich in verschiedenen Situationen, zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, einfach unter unterschiedlichen Bedingungen sein Optimum auszurechnen. Das Problem dabei ist, dass in multidimensionalen Systemen kein eindeutiges Optimum bestimmt werden kann. Jede Stellschraube, welche bewegt wird, zieht eine unübersichtliche Zahl Änderungen nach sich. Viel komplizierter als ein Schachspiel. Vor dieser Herausforderung steht jeder Mensch. Es ist daher nicht möglich zu bestimmen, was »richtig« und was »falsch« ist. Das sind moralische Kategorien. Und wer bestimmt oder hat das Recht, die Moral zu bestimmen?

    Das Denken in Lagern, Parteien, Völkern, Staaten ist aufgezwungen und einfach. Der Mensch wird hinein geboren. Durch seine Banalisierung [des Denkens in einer (meistens), zwei oder maximal drei Dimensionen] bildet es die individuelle Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen nicht ab.

    In einer freien Gesellschaft könnte jeder gemeinsam mit anderen nach seinem Optimum suchen. Freiheit ist für Menschen, welche Gesetze gewohnt sind, sehr schwer vorstellbar.

  6. Hervorragender Artikel.
    »Identitätspolitik« ‚die im Kern der neoliberalen Eigenverantwortung entspricht«
    Exakt. Die gleiche Denkstruktur.
    Idendität ist, wie oben schon beschrieben, das Ergebnis eines wüsten Sammelsuriums von Faktoren. Wer sie einseitig reduziert auf den Hintergrund von Menschen, denkt genauso wie Rechtsextreme, nur mit anderer Oberfläche.
    Hier der gute Deutsche, dort der böse Deutsche.
    Hier der schlechte Schwarze, dort der schlechte Weiße.
    Hier der böse Moslem, dort der gute Moslem.
    Am Schluß sind wir dann bei Rassismus, Sexismus und völkischem Denken, nicht wirklich das, was ich mir mal als linkes Denken vorgestellt habe.

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