Kinder in Deutschland; Teil 54: Vertrauen

Drei wichtige Merkmale in der kindlichen Entwicklung werden in den letzten Jahren immer mehr vernachlässigt: Selbstwirksamkeit, Selbstverantwortung und Selbstständigkeit. Phänomene wie Überbehütung, »Elterntaxis«, Smartphone-Tracking sowie »Helikopter-Eltern«, die Kinder präventiv vor jeder vermeintlichen Gefahr und jedem Scheitern beschützen wollen, sorgen nachhaltig dafür, dass Kinder immer weniger Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zur Lebensbewältigung entwickeln können. Im sozialen Lebensraum Schule kann man das mittlerweile jeden Tag beobachten.

Selbstwirksamkeit
Obwohl es viele Elternabende und Elterngespräche zum Thema »Schulweg« gibt und besonders bei Grundschulen in Großstädten der Schulweg durch die Einzugsgebiet-Regelung in aller Regel nicht sehr lang ist, erlauben immer mehr Eltern ihren Kindern nicht, allein zur Schule bzw. von der Schule Nachhause zu gehen.

»Etwa 43 Prozent aller Kinder werden mit dem Auto zur Schule oder in den Kindergarten gebracht.«

- Bundesministerium für Digitales und Verkehr

An unserer Schule haben wir hier durch die Hort-Regelung sehr nachvollziehbare Daten. Ein Blick in unsere Abmeldungs-Ordner zeigt, dass immer mehr Kinder der 5. und 6. Klassen nicht allein Nachhause gehen dürfen, sondern darauf warten müssen, dass ihre Eltern, ihre Babysitter oder ihre großen Geschwister sie abholen. Spricht man mit den Kindern über dieses Thema, ergibt sich häufig das Bild, dass dies weniger der Wunsch der Kinder, sondern das Bedürfnis der Eltern ist. Fast alle Kinder wohnen in unmittelbarer Nähe und müssen maximal ein paar Straßen überqueren.

Vielen rund 12 Jahre alten Kindern ist das Thema, gegenüber ihren Mitschülern, eher unangenehm und peinlich. Sie selbst würden gern allein morgens zur Schule oder Nachmittags allein Nachhause gehen, sie trauen sich das zu — aber ihre Eltern erlauben das nicht. Aus Gründen.

Selbstverantwortung
Selbstverantwortung zeigt sich bei Kindern auch dadurch, wie sie mit ihren eigenen Sachen umgehen. Lassen sie ihre Kleidung, ihre Spielzeuge, ihre Schulsachen usw. — überall liegen oder halten sie hier halbwegs Ordnung? Wer als Kind darauf vertraut, dass die Erwachsenen (Eltern, Lehrer, Pädagogen, Erziehungsberechtigte, Großeltern etc.) ihnen alles nach- und hinterhertragen, entwickelt nur wenig Verantwortungsgefühl und Wertschätzung für die eigenen Sachen. Die äußere Ordnung bestimmt die innere Ordnung und umgekehrt.

Ich bekomme es auch immer wieder mit, dass Kinder ihre Sachen verlieren (oder gar mutwillig zerstören) und ihre Eltern sie unmittelbar ersetzen. Wie sollen Kinder hier eine Wertschätzung für Irgendetwas entwickeln, wenn alles sofort wieder zur Verfügung steht? Auch hier meinen es die Eltern häufig nur »gut« und bewirken genau das Gegenteil. Sobald Kinder einmal die Erfahrung gemacht haben, dass ein ihnen wichtiges Spielzeug, die Lieblingsjacke oder ein elektronisches Gerät nicht sofort ersetzt wird, werden sie beim nächsten Mal deutlich besser darauf aufpassen und Verantwortung übernehmen.

Selbstständigkeit
Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit erlernen Kinder vor allem dann, wenn sie scheitern und Fehler machen dürfen. Wenn ihre Eltern ihnen »erlauben« zu stürzen und sich zu verletzen. Was nach Vernachlässigung der Aufsichtspflicht oder gar Missachtung des Kindeswohls klingt, ist die Grundlage für jeden starken Charakter. Aus den eigenen Fehlern lernen und daran zu wachsen. Die Grundlage, Krisen und Herausforderungen im Leben meistern zu können, erwächst nicht aus einem Übermaß an Liebe und Behütung, sondern aus der persönlichen Erfahrung, dass man gestürzt und wieder aufgestanden ist.

Wenn Eltern, Großeltern oder die Gesellschaft es jedoch nicht mehr zulassen wollen, dass Kinder körperlich, kognitiv oder emotional »fallen« dürfen, dann können sie auch nicht aufstehen und wachsen. In einer Gesellschaft voller Fangnetze und wo Erwachsene Kinder schon auffangen wollen (und sollen!), bevor sie gestürzt sind — gibt es immer weniger Kinder und Jugendliche die eine starke Resilienz aufweisen.

Es ist demnach auch wenig verwunderlich, warum es so viele Erwachsene gibt, die wie Kinder denken, urteilen und handeln. Sie übernehmen keine Verantwortung für sich und andere. Sie sind immer noch im binären Denken (»gut vs. böse«) verhaftet sowie nicht fähig oder bereit, Sachverhalte differenziert zu analysieren.

Die Raupe ist nie zum Schmetterling geworden, sondern immer eine Raupe geblieben. Es war einfach nicht nötig, dass Fliegen zu erlernen, weil man überall hin getragen wurde.


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12 Gedanken zu “Kinder in Deutschland; Teil 54: Vertrauen

  1. Es interessant auch an diesem Text zu beobachten, wie die Herstellung einer (vermeidlichen) Sicherheit zu Einschränkung von Freiheit führt. Der Zwölfjährige, der nicht alleine nach Hause gehen darf, mag sicherer sein, ist aber unfrei. Verinnerlicht der Knabe dies, wird er als Erwachsener nicht mehr nach Freiheit verlangen sondern nach Sicherheit. Ich glaube, ich bin solchen Leuten schon begegnet.

  2. Diese perverse Entwicklung beginnt schon viel früher. Einerseits wird Kleinkindern (unter 3) schon Gewalt angetan, wenn sie in die Kita abgeschoben werden, weil die Mama arbeiten »muss« (natürlich mit gesetzlich geregelten Stillzeiten und Pipapo, aber ohne das Recht die Einheit von Oyako (Mutter&Kind) am Arbeitsplatz zu erhalten). Andererseits werden die Kleinkinder überbehütet und zu kleinen Diktatoren herangezüchtet. Beides ist für das Kind nicht gut, denn die emotionale Autoregulation muss von der primären Bezugsperson i.d.R. die Mutter, bis zum Alter von 3 Jahren erlernt werden. Und das geht nur wenn a) das Kind (auch) negative Emotionen erfährt und b) eine empathische Mutter für das Kind erreichbar ist und das Kind tröstet. Klassischer Fall: Kind ist hingefallen, Aua macht, Mutter kommt und »pustet« den Schmerz weg. Weder ohne das eine noch ohne das andere lernt das Kind die emotionale Autoregulation und ist dann lebenslänglich traumatisiert. Aber genau beides ist die gesellschaftliche Tendenz. Schreibe gerade ein Buch dazu.

  3. @tomdose57

    Leider nicht mehr nur die Grünen, sondern auch viele der woken Pseudo-Linken, denken nur noch in infantilen »gut« und »böse« Kategorien. Im Kampf gegen das »Böse« ist dann auch alles als Methode erlaubt, was bei den »Bösen« Menschenverachtung wäre.

    @Kakapo3

    Gut beobachtet! Diese Ambivalenz bzw. das Spannungsverhältnis zwischen »Sicherheit vs. Selbstbestimmung« erleben wir Pädagogen mit den Eltern bei vielen Themen. Das kann man auch bei Erwachsenen sehen, dass die »Freiheit« kaum mehr etwas zählt. Für die vermeintliche Sicherheit (die letztendlich immer eine Illusion ist), wird vieles freiwillig aufgegeben.

    @orinoco

    Deine Argumentation setzt voraus, dass alle Mütter dieser Welt ‑nur weil sie vermutlich immer das Beste für ihre Kinder wollen- auch stets das Beste für ihre Kinder sind. Dem ist leider nicht so. Ergo: für so einige Kinder kann Kindergarten und Hort eine echte Bereicherung sein.

  4. @epikur
    Das können wir gerne hier diskutieren, aber
    1. denke ich würde das wieder zu off-topic sein
    2. macht es wenig Sinn von vollkommen unterschiedlichen Wissensständen auszugehen.
    Für den Fall, dass sich jemand meinen Wissensstand aneignen (und nicht auf das didaktisch besser strukturierte Buch und in dem ich auf solche und ähnliche Bedenken explizit eingehe warten) will https://t.positiv.abades.dynu.net/

  5. Schlussendlich sind diese Erscheinungen in der Welt der Kinder das Äquivalent, der Mikrokosmos zum völlig durchregulierten Makrokosmos uns Erwachsener.

    Welche Bemühungen gab es denn während der letzten Jahrzehnte, die Leute zu selbständigem Denken anzuhalten? Überall, wo sich auch nur kleinste Probleme oder geringe zwischenmenschliche Dissonanzen zeigen, schreitet der Gesetzgeber regulierend ein. Es darf keine Abweichungen mehr von irgendwelchen Normierungen mehr geben, je uniformer die Welt ist, desto besser ist sie für meisten aushaltbar.

    Das Thema hatten wir ja kürzlich schon einmal: Ambiguitäten aushalten. Die Fähigkeit, solche auszuhalten, hat über die Jahre immer weiter abgenommen, weswegen heute wie von selbst der Ruf erschallt, auch kleinste Irregularitäten glattzubügeln.

    Man warnt uns vor alten Sendungen mit Harald Schmidt oder Otto Waalkes, weil deren Spitzen in der heutigen Welt der hochgezüchteten Sensibelchen eine Traumafolgestörung auslösen könnten.

    Was ist mit den Menschen passiert, wenn sie nicht mehr imstande sind, sprachliche Nuancen zu erkennen, das Sensorium für sarkastische Spitzen verloren haben und auf jede leichte Brise des Widerspruchs düpiert reagieren?
    Wollen die das nicht mehr, oder können sie es nicht mehr? Sind wir wirklich so weit, dass die Obrigkeit uns ständig beschützen muss, weil wir nicht mehr selbst für uns sorgen können oder wollen und stattdessen die Visage in Falten werfen, wenn einmal etwas nicht so läuft wie es schön wäre?

    Offenbar sind wir dort angekommen, weil sonst gäbe es all diese Zeiterscheinungen nicht.

    Nicht nur gängeln wir unsere Kinder bis zum Umfallen, auch wir selbst werden gegängelt — wollen sogar gegängelt werden, weil wir uns offenbar gar nicht mehr zutrauen, selbst zu denken und entsprechend eigenverantwortlich zu handeln.
    Auch das haben wir ja schon reichlich durch hier — jedes Mal, wenn wir wieder zur Coronathematik kommen.

    NIcht nur den Kindern aberziehen wir jede Autonomie, auch uns selbst, und das noch aus freien Stücken. Nehmt uns endlich unsere Freiheit! Noch der absurdesten Regelung unseres Verhaltens wird Folge geleistet, jemand muss sich ja etwas dabei gedacht haben, wir selbst können das ja nicht mehr.

    So gesehen drehen wir uns hier immer im selben Kreis. Warum sollte es bei den Kindern anders gehen als es uns Erwachsenen selbst seit Jahren widerfährt. Und wer sich noch erdreistet, selbst zu denken und eigene Entscheidungen zu fällen, hat sich gleich aus dem Gesellschaftsvertrag verabschiedet und handelt unverantwortlich. Wir werden nicht nur angehalten, unsere Freiheit abzugeben, wir werden mittlerweilen bestraft, wenn wir unsere eigene Freiheit wahrnehmen und verteidigen wollen.

    Dann müssen wir sagen, es ist nur folgerichtig, wenn wir auch unseren Kindern gleich alles abnehmen oder verbieten, was Risiken birgt. Wohin das führt, sehen wir ja bereits bei uns selbst, aber das scheint so gewollt zu sein, immerhin wird uns genau das von morgens bis abends vorgebetet. Und das Konzept greift ja ausgezeichnet; diese unterkomplexe, intellektuell flache Sicht auf die Welt ist längst in den Köpfen der Menschen angekommen. Das festzustellen bedarf nur weniger Äusserungen der entsprechend verfassten Geister und es wird klar, dass hier jeder Versuch einer differenzierten Erklärung der Welt ins Leere laufen wird.

  6. Dieses Bevorzugen der Sicherheit gegenüber der Freiheit kann es auch damit zusammenhängen, dass man im Grunde genommen weiß, dass unsere Lebensumstände durch den drohenden Weltkrieg und der Klimaveränderungen massiv bedroht sind. Ist dies ein Phänomen einer Vorkriegszeit im Gegensatz zur Nachkriegszeit?

  7. Danke dir für diese Insights. Im Groben kann ich ähnliches auch beobachten, seit ich des Öfteren mal in Schulen unterwegs bin, außer dass ich natürlich keinen Einblick in die Einzelhinweise zu Eltern habe (nicht heim dürfen, bis sie wer abholt). Denke ich an meine Schulzeit, war einerseits das Vertrauen in uns Kinder anders gelagert, aber auch die etwaigen Bedrohungen waren nicht da oder weniger ein Problem.

    Im psychologischen Sinne sind deine Rückschlüsse natürlich richtig. Da ist jetzt eher der Anteil elterlichen Fehlverhaltens zu nennen, aber auch Lehrer und Lehrerinnen sind da nicht ganz unschuldig. Gerade zum Thema »Amok-Alarm« klingt das böse nach Traumatisierung, nur weil es mal eine Welle von Amokläufen in Schulen gab. Man hört im Moment wenig davon, aber die Angst ist allgegenwärtig. Fehlalarme machen den ganzen »Laden« durcheinander, die Lehrkräfte mahnen dann ständig präventiv, bitte keine auszulösen, weil dann »Panik ausbricht«. Ich bin da ständig zwiegespalten, zwischen Verständnis und Unverständnis. Unverständnis, weil manche Lehrkräfte richtig bösartig werden und warnen, die Kinder hätte es nachhaltig traumatisiert. Und ich frage mich, ob es eher die Lehrkräfte mehr berührt als die Kids. Das nur mal in die Waagschale geworfen.

  8. @PV
    Stimmt das Klima bedroht niemand. Es gibt aber die Beobachtung, dass die Lebensumstände für Menschen auf diesem Planeten schlechter werden., siehe Verwüstung auf allen Erdteilen. Bei weiterer Fortschreitung dieser Effekte könnte die Äquatorregion für Menschen unbewohnbar werden.
    Ebenso nimmt die Biomasse in den Weltmeeren massiv ab. Sollte in den Weltmeeren kein Leben mehr existieren, könnte dies auch für die Menschen fatale Folgen haben.
    Lass dich nicht ablenken von Diskussionen über Erderwärmung, Steigerung des Meeresspiegels oder Eisbären. Diese gehen meistens am Punkt vorbei.

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