Die SEO-Algorithmen von Google, Amazon, Facebook und vielen anderen digitalen Portalen produzieren und fördern ein moralisch totalitäres Denken. Denn um Big Data besser verwerten zu können, gibt es häufig nur 0 oder 1. Sämtliche Grauzonen, Differenzierungen und tiefergehende Analysen, verschwinden in der öffentlichen Bewertung und Wahrnehmung von Ereignissen. Bist Du dafür oder dagegen? Brexit? Impfen? EU? Abtreibung? Uploadfilter?
Putin oder NATO?
Gut oder böse?
Hype oder Flop?
Links oder rechts?
Like oder Nicht-Like?
Hater oder Fanboy?
Feminist oder Sexist?
Gegner oder Befürworter?
Daumen hoch oder Daumen runter?
Der Haltungsjournalismus und die ständige Forderung nach individueller Positionierung fördern ein infantil-banales Weltbild. Es scheint kaum mehr möglich zu sein, sich nicht zu positionieren. Wenn ich beispielsweise am Stammtisch oder bei Facebook sage, dass ich beim Thema »Abtreibung bei Kind mit Behinderung« beide Seiten verstehen kann, ja sogar selbst Pro- und Contra-Argumente aufführe, werde ich entweder ignoriert oder von einer Pro- oder Contra-Partei in der Luft zerfetzt. Die binäre Bewertung hat dafür gesorgt, dass ganzheitliches Verständnis und Unparteilichkeit immer schwieriger werden. Enthaltung ist keine Option mehr.
Die einfachen Lösungen und Losungen sind nicht nur die Rhetorik von vermeintlichen Populisten, sondern werden auch von den Politikern und den Produktmedien überall bedient. Soll sich der Pöbel doch über das Für und Wider von Gender-BlaBla streiten, als sich mit der Eigentums‑, Vermögens- und Besitzverteilung zu beschäftigen. Außerdem haben es Geheimdienste, Marketing-Soldaten und Datenräuber so sehr viel leichter die Menschen zu sortieren, zu gruppieren und entsprechende Zielgruppen zu definieren.
Die viel beschworenen Echokammern und Filterblasen sind zudem ein Produkt der omnipräsenten Suchmaschinenoptimierung. Hierbei erzeugen digitale Algorithmen, die Sucht nach Aufmerksamkeit, Klicks und Kommentaren von Online-Medien sowie das User-Bedürfnis nach einem einfachen Weltbild, eine große graue Top- oder Flop-Suppe. Und ja, eine differenzierte Weltsicht zu vermitteln war schon immer eine Herausforderung. Im Zeitalter der 180-Wörter-Argumentation wird das jedoch zunehmend zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Sowohl als Auch
Feindbildkonstruktion
Die binäre Wahrnehmung
Für diese Internetwelt sind wir schon spätestens seit den 80ern durch das Fernsehen konditioniert worden. Wer seinen Standpunkt nicht in 30 Sekunden klarmachen kann, liefert kein sendefähiges Material. In Talkshows wird man nur eingeladen, wenn man eine klare Meinung zu einem Sachverhalt hat. Wer offen ist oder neutral, ist unbrauchbar für den öffentlichen Schlagabtausch.
Betrachte man es mal so herum: Wie funktionieren Suchmaschinen? Wie funktioneren ihre Crawler? Sie suchen nach Schlagworten, die sie dann einer großen Datenmenge von vermeintlich selben Inhalten ( = nutzen nur die selben Worte) zusortieren können.
Differenziertheit würde für diese Maschinen eine unüberwindbare Aufgabe darstellen, weil sie bei möglichst hohem, aber unterschiedlichem Input, überfordert wären. Nebenbei, dass Maschinen letztendlich doch menschliche Sprache zwar suchen, aber nicht kohärent verstehen können.
Will also jemand in dieser Datenmenge möglichst gut zuordbar sein, damit man ihn dann wieder findne kann, muss er sich an die Vorgehensweise/technischen Kapazitäten an die Suchmaschine anpassen. Früher war das mal das Mindestmaß an SEO-Optimierung; mittlerweile ist es ein perverses Spiel um die Aufmerksamkeit der potentiellen Leser geworden und diese eintönige Optimierung mindert an sich schon den Inhalt von dem, was der potentielle Zaungast dargeboten bekommt.
Was im Umkehrschluss heißt: Je mehr um Aufmerksamkeit buhlen, desto schlechter wird die Qualität des Dargebotenen, weil es schwerer wird, durch den Suchroboter im großen Meer gesehen zu werden, gleichzeitig aber ist diese Verflachung für den menschlichen Nutzer gar nicht gut, weil es ihn mindestens genauso flach werden lässt. Immerhin kriegt er ja auch nur noch solche verflachten Inhalte vorgesetzt, differenzierteres aber schlechter zuordbares Material kriegt er ja kaum noch zu sehen. Und diese flachen Inhalte gibt es, dank kommerziellen Interessen, sogar noch doppelt und dreifach vorgeschlagen...
Eine Diskussion zu führen, erscheint in der heutigen Zeit der moralischen Empörung und Lagerzuweisung schwierig. Ob das mal besser war — keine Ahnung. Es nervt jedenfalls. Ich nehme zwei Phänomene wahr: Wenn man zu einem Lager gehören will, darf man auch nicht die kleinste Kleinigkeit in Frage stellen. (Mein Beispiel: Nachdem der NABU und andere mal darüber gewitzelt haben, dass die bösen Autofahrer sich wahrscheinlich über das Insektensterben freuen, weil die Windschutzscheiben dann nicht mehr verdrecken, wurde daraus das Dogma, »Es gibt keine verdreckten Windschutzscheiben mehr.« Wenn man jetzt sagt, »Also meine Windschutzscheibe ist ziemlich verdreckt von Insekten« ist man ein AfD Anhänger, Klimawandelleugner, dumm, unwissenschaftlich usw.)
Das zweite Phänomen: Es gibt zwar unsichtbare aber recht strikte Regeln, über welche Teilbereiche diskutiert, bzw. sich moralisch erreget werden darf. Bezüglich der Schifffahrt sind dies Kreuzfahrtschiffe, zwar nur ein Promilleanteil der zivilen Schiffe, aber über die ständig wachsende Handelsflotte wird schlicht nicht gesprochen. Ellenlange Diskussionen über die Tütchen an der Obst- und Gemüsetheke. Keine Diskussion über das Verpackungsmaterial, das benutzt wird, um Obst und Gemüse erst mal von A nach B nach C und D und E nach F und schließlich zum Supermarkt zu bringen. Ebenso bei den Folgen des Klimawandels, lange Diskussionen über das Schmelzen des Eises und das Steigen der Meeresspielgel, keine Diskussion über das Sterben der Korallenriffe und die drohende Unbewohnbarkeit der Äquator Region.
Zusammengefasst: Wichtig ist nur was in Europa passiert, Diskutiert werden, darf nur über Eigenverantwortung des Endverbrauchers (Am liebsten als moralische Empörung (pro: wie kann einer heute noch in Urlaub fliegen, contra: die wollen uns den Urlaub verbieten .)
@Kakapo3
Stelle ich sehr oft auch fest — und es nervt nicht nur, ich empfinde es schon als eine quasi-selbstauferlegte Reduzierung des eigenen Horizonts und des eigenen Intellekts (wider besseren Wissens). »Schuster, bleib bei deinen Leisten und sieh bloß nicht in den Spiegel — damit es auch morgen was zum Aufregen gibt.« So erscheint es einem.