Berliner Bildungsprogramm: eine Kritik

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Das Berliner Bildungsprogramm ist das pädagogische Leithandbuch für alle Berliner Kindertageseinrichtungen. Viele Bundesländer haben so eine Bibel für Kita-Pädagogen. Auch wenn dieses Handbuch viel dazu beigetragen hat, die Kindertageseinrichtungen als Bildungsinstitutionen und eben nicht nur als Aufbewahrungs- und Abschiebeanstalten für Kinder zu verstehen (damit die Eltern ordentlich lohnarbeiten können!), so ist leider auch dieses Werk durchsetzt von marktwirtschaftlicher Verwertungslogik. Schließlich sollen Kinder für uns weiterhin der Zukunfts-Rohstoff, anstatt unsere Gegenwart sein.

Chancengerechtigkeit
Das beginnt schon bei dem unsäglichen Begriff der »Chancen«. Es geht eben nicht darum, verkrustete neofeudale Arbeits- und Familienstrukturen aufzubrechen, eine gerechtere Verteilung von Besitz und Vermögen anzustreben oder gar komplett neue Formen des sozialen Miteinanders in den Kindergärten auszuprobieren, sondern nur um die Stärkung der leidigen »Eigenverantwortung«. Kinder, die aus einem finanziell reichen Elternhaus kommen, haben im Gegensatz zu Kindern die aus Armuts-Familien kommen, schon eine extrem vorteilsbehaftete Ausgangssituation. Allein dieser Umstand ist nirgendwo in Europa so prägend für das ganze Leben wie in Deutschland. Die Begriffe »Chancen«, »Leistung« und »Eigenverantwortung« lenken von diesen strukturell ungerechten Zuständen ab und machen den Bildungs-Erfolg zu einem rein individuellen Faktor. Der Grundtenor des Berliner Bildungsprogrammes macht da leider keine Ausnahme. Kinder sollen nicht die vorhandenen Strukturen in Frage stellen, sondern diese als Naturzustand akzeptieren und darin ihre »Chancen« wahrnehmen:

»Kinder müssen  die  Möglichkeit  bekommen  zu  entdecken,  welche  großen Chancen für sie in einer sich immer dynamischer entwickelnden Welt [...] sich ihnen bieten.« (S. 14)

»...dass alle Kinder bei unterschiedlichen Voraussetzungen  gleiche  Bildungschancen  und  ein  Recht  auf  aktive  Beteiligung an allen Entscheidungen haben, die sie betreffen.« (S. 25)

»...ihr Leben in einer Welt voller Chancen und Risiken eigenverantwortlich zu gestalten.« (S. 27)

Leistungsgerechtigkeit
Weiter geht es mit dem neoliberal besetzten Begriff der »Leistung«, dass meines Erachtens in einem pädagogischen Grundwerk für Kindertagesstätten absolut nichts zu suchen hat. Der Leistungsgedanke baut bei Kleinkindern unnötig Druck auf, erzeugt Versagensängste und führt unweigerlich zu einer ökonomischen Verwertungsperspektive von Pädagogen. Kinder lernen, sind neugierig und interessiert. Auch ganz ohne einer Funktionslogik von Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Leistungsdruck wird spätestens in der Schule extrem zunehmen und die Kinder früh genug zermürben. Jedes Jahr begehen rund 600 Jugendliche Selbstmord. Aber Hauptsache wir frönen dem Leistungsfetisch:

»Bildung ist Beteiligung und Leistung.« (s. 17)

»Die Diskussion um frühkindliche Bildung war lange Zeit von der Absicht geprägt,  Kinder  vor  Leistungsdruck  zu  schützen  und  ihnen  ein  Recht   auf  eine  vermeintlich  unbelastete  Kindheit  zu  sichern:  »Kindorientierung  statt  Leistungsorientierung«  hieß  die  Devise.  Diese  Einstellung resultierte  aus  einem  Bild  vom  Kind  als  einem  schwachen  Wesen. Heute wissen wir: Kinder sind stark.« (s. 17)

»Kinder als stark und kompetent zu betrachten, ihnen Leistung zuzutrauen  und  diese  einzufordern.« (S. 17)

»Die Entwicklung einer demokratischen Kultur, in der Beteiligung und Mitwirkung von Kindern erwünscht sind, sie zur Leistung ermutigt werden.« (S. 18)

Keine Gerechtigkeit
Die marktwirtschaftliche, neoliberale Agenda-2010-Sprache hat auch in der Pädagogik Einzug gehalten. Dennoch hat das Berliner Bildungsprogramm deutlich gemacht, dass Kitas eben auch Bildungseinrichtungen sind und das man Kinder in ihrem So-Sein ernst nehmen müsse. Wenn man sich anschließend noch seitenweise das Anforderungsprofil an die Erzieher-Aufgaben durchliest, muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass nur Übermenschen Erzieher werden können. Was da im Berliner Bildungsprogramm seitenweise alles von Pädagogen erwartet und gefordert wird und wie die Tätigkeit am Ende tatsächlich vergütet wird, steht in keinerlei Verhältnis mehr, ja ist schlicht absurd.

»Bildung« ist zudem keine Wunderwaffe. Das akademische Prekariat nimmt genauso zu, wie die Entqualifizierungs-Maßnahmen vom Jobcenter, bei denen beispielsweise Doktor- oder Diplom-Absolventen zu Lagerarbeiten verdonnert oder in Call-Center gepresst werden. Hauptsache Arbeit, egal welche! »Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen! Sozial ist, was Arbeit schafft!« Das Plastik- und Gummiwort »Bildung« fungiert zunehmend als Code und Chiffre für die neoliberale »Eigenverantwortung«. Es gibt keine neofeudalen und plutokratischen Strukturen, sondern nur die »Leistung« des Einzelnen, der seine »Chancen« in den vom Markt-Gott gegebenen Rahmenbedingungen, wahrnehmen müsse. Wer allein das hinterfragt, ist ein Steinzeitkommunist, der an Fake News glaubt und Verschwörungstheorien verbreitet. :jaja:


» »Neusprech: Ausbildungsunfähigkeit«
» »Bildung: Von Schranken und Mauern«
» »Nichtsnutz. Niete. Null.«

3 Gedanken zu “Berliner Bildungsprogramm: eine Kritik

  1. Pingback: Feynsinn » Zitat des Tages

  2. Den Verfassern dieses Pamphlets empfehle ich dringend
    die Lektüre von Gerald Hüthers Buchveröffentlichungen
    oder besser noch eine hochkonzentrierte Rezeption seiner
    brillanten Vorträge (sehr viele auf yt zu finden).

    Schon in den 1990ern wurde klugen Köpfen klar, wie
    irrsinnig kinder- und zukunftsfeindlich die Konzepte
    der Frühförderung und ‑Digitalisierung eigentlich sind.

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