»Ist das alles?«

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© epikur

Ich bin 26 Jahre jung, habe einen exzellenten Uni-Abschluss in Maschinenbau gemacht und auch sofort einen sehr gut bezahlten Arbeitsplatz bei BMW bekommen. Unbefristet mit etlichen Zulagen. Dort arbeite ich jetzt seit gut einem Jahr. Ich bin verheiratet, wir erwarten unser erstes Kind im Sommer und zahlen gerade unser Haus am See ab, in dem wir vor einem Monat eingezogen sind. Wir besitzen zwei Autos und können uns finanziell alles leisten was wir wollen. Und dennoch: ich bin unglücklich.

Ich habe mich verändert. Bin mir selbst fremd geworden. Früher war ich neugierig und wissbegierig, aufgeschlossen gegenüber neuen Dingen sowie experimentierfreudig. Geld war ein Werkzeug, daß ich benutzt habe. Heute beherrscht es mich. Mein Denken, Fühlen und Handeln. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an Schulden, an unser Haus und Auto oder an Produkte und Dienstleistungen denke, die ich noch haben will oder abbezahlen muss.

Für mich und meine Jugendfreunde war damals die ganze Welt ein großes Abenteuer. Wir nutzten jeden Tag, um neue Dinge auszuprobieren. Wir sind mit Bus- und U‑Bahn-Linien von Endhaltestelle zu Endhaltestelle gefahren, nur um zu erfahren, was da am Ende ist. Wir sind nachts über Friedhofsmauern geklettert, nur mit Taschenlampen und unserer Neugier bewaffnet. Wir haben fremde Leute angerufen und ihnen Blödsinn erzählt: wer sie länger an der Strippe halten konnte, hatte gewonnen. Wir wollten immer viel reisen, andere Länder und Kulturen erleben und kennenlernen. Haben überall unsere Zelte aufgeschlagen. Wir hatten immer neue Ideen und unsere Lebensfreude war ungebrochen. Mit 16 Jahren war das Leben für mich eine große Wundertüte.

Und nun soll ich für den Rest meines Lebens funktionieren? Mein gesamtes Dasein auf einige wenige Fähigkeiten reduzieren? Wie eine Maschine meine Lohnarbeit verrichten, Rechnungen bezahlen und meinen all Inclusive Urlaub als den Höhepunkt des Jahres betrachten? Ist das alles, was das Leben noch zu bieten hat? Das Versprechen, mit einem guten Sozial Status stelle sich auch automatisch Glück und Freude ein, wurde nie eingelöst. Ich fühle mich betrogen. Habe mich belügen lassen. War dumm.

Die Alltagsmonotonie und der finanzielle Selbstverwertungszwang halten mich heute in ihren eisigen Klauen. Eine enge Schlinge, genannt (Verlust-)Angst, erdrückt meinen Hals. Ein Ausbrechen ist ohne ernsthafte Konsequenzen kaum mehr möglich. Mein Gewissen und meine moralischen Prinzipien haben sich vollständig der Geldvermehrung ‑um jeden Preis- untergeordnet. Verrückte Ideen oder einfallsreiche Kreativität, die sich nicht zu Geld machen lassen, sind für mich und mein Umfeld, bedeutungslos geworden. Während ich mit 16 Jahren die Freiheit gelebt und geliebt habe, fürchte ich mich heute vor ihr. Ich brauche den Lohnarbeitszwang und die damit vorgegebene Struktur, um nicht über mich nachdenken zu müssen.

Und das soll erstrebenswert sein? Dafür war ich über 20 Jahre in Schule und Universität? Lohnarbeiten, konsumieren, Rechnungen bezahlen und nur an die Finanzen denken? Klappe halten, buckeln, schuften. Noch über 40 Jahre lang? Tag für Tag. Nein danke, dann will ich lieber wieder ein Kind sein. Die Unbeschwertheit des Alltags in meiner Kindheit war für mich ein großes Fundament meines persönlichen Glücks. Niemand weiß von meiner tiefen Unzufriedenheit, der Abscheu gegenüber meiner Lohnarbeit und meiner inneren Selbstentfremdung. Nicht mal meine Frau. Schließlich habe ich doch alles, was man sich wünschen kann.

19 Gedanken zu “»Ist das alles?«

  1. mir unbegreiflich, wie jemand so reden kann. andere wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil von dem hätten, was der junge Familienvater da alles so aufzählt. Und dann diese Undankbarkeit gegenüber allen, die diese Karriere möglich gemacht haben, den Staat mit seinen Universitäten, die Eltern, die auf so manches zugunsten ihres Kindes verzichten mussten — wir wären damals froh gewesen, eine gute Ausbildung und ein gutes Auskommen gehabt zu haben. Ich sage euch: Ihr werdet euch nochmal umgucken, die schlechten Zeiten kommen schneller wieder als ihr denkt....

  2. ...und obendrauf bekommt man noch Schuldgefühle eingeredet, weil man nicht unglaublich dankbar dafür ist, ein wohlgenährter und gut ausgebildeter, dennoch todunglücklicher, mundtot gemachter Sklave der Konsum- und Leistungsgesellschaft sein zu dürfen.

    Mensch, sei doch gefälligst glücklich! Du hast schließlich alles erreicht, was sich der Kleinbürger von seiner Existenz verspricht! Geld, Karriere, Familie...was will man mehr erwarten? Etwa Glück, Erfüllung, Selbstbestimmtheit oder Spaß??

  3. ...tja, wer sich nicht beizeiten klar macht, wohin die schulische und universitäre Konditionierung für das Funktionieren in der »schönen Maschine«(Robert Kurz) führt und sich auf allerlei Blödsinn wie Heiraten und oder
    Hausbau einlasst, der kommt so schnell nicht wieder raus aus der Teufelsmühle, vielleicht kommt man da garnicht mehr raus.
    Eins ist aber sicher: je länger man wartet, um so schwerer wirds.

  4. @Kaluptikus

    mir unbegreiflich, wie jemand so reden kann. andere wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil von dem hätten, was der junge Familienvater da alles so aufzählt.

    Warum gibt es überall auf der Welt, in vielen finanziell armen Regionen, glückliche, ausgeglichene und lebensfrohe Menschen, was in Deutschland undenkbar ist? Warum vereinsamen in Deutschland viele alte Menschen; ein Phänomen das in Südeuropa deutlich seltener auftritt? Warum gibt es in Bus und Bahn soviele Menschen die von ihrer Lohnarbeit stöhnen, ächzen und die grau und leer im Gesicht sind?

    Haben ist nicht Sein.

  5. @kaluptikus hat wahrscheinlich den Ironiemodus benutzt :-)

    Tja, wir Deutschen verstehen zu überleben, aber leben –
    nein … Und nehmen dies den Nationen übel, die solches
    auch unter widrigen Umständen hinbekommen. Sind ja auch gerade dabei, es denen abzuerziehen ;-)

  6. Jetzt wäre Zeit ein wenig an die Gesellschaft zurück zu geben.
    Vielleicht ne AG in einer Schule anbieten, in die Feuerwehr eintreten,
    ein Musikinstrument zu lernen, die lokale Flüchtlingsiniative unterstützen, dem Hospitz Geld spenden, ältere Leute besuchen, genau diese Sachen lassen sich richtig gut machen wenn man die existenziellen Sorgen los geworden ist.

  7. Oh je, und ich dachte immer, ich hätte Depressionen weil ich so erfolglos bin... ich sollte mir ein Bild von Robert Enke neben den Badezimmerspiegel hängen — oder von Epikur ;)

  8. @Andari

    Für diejenigen, die es nicht wissen sollten: die Geschichte oben ist nicht meine Biografie, sondern eine fiktive. Die es aber wohl häufiger geben mag, als man vermutet ;)

    EDIT: Verdammt. Warum löse ich das immer auf. Es gibt viel interessantere Kommentare, wenn ich nicht betone, dass es sich um fiktive Geschichten oder Satiren handelt :D

  9. Würde ich nicht machen! Da Problem ist aber, dass die Deutsche Mehrheit, obwohl Sie sonst auch die Barone von Münchhausen (im besten Fall) bildet, wenig mit Fiktion, Geschichten und Stilmitteln der Literatur, anfangen können. Ihre erfolgreichsten Medien inkl. Internet sind Zeugen davon, vgl. auch Kommentare.

  10. Handlung und Personen sind frei erfunden,Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind rein zufällig ...HaHaHa ..

  11. Die Geschichte suggeriert, dass Wohlstand kein dauerhaft gesättigtes Glück bedeutet. Dabei haben diejenigen mit viel Kohle durchaus eine Menge materieller Vorteile (z. B. Krankenversicherung, Ernährung, Nachhilfe, sicherere Autos). Sie sind aber unglücklich, wenn die Lieferzeit des neuen Porsche Cheyenne 6 Monate beträgt.

    Die Geißens (Rooooobärt!) tun mir z. B. leid. Das sind doch armselige neureiche kleine Würstchen.

  12. @Charlie

    Hehe. Ok. Wird nicht nachgeholt. :D

    Ein bissl was habe ich ja von meiner Kindheit reingepackt, beispielsweise das nächtliche Friedhofs-Spuken. :rock:

  13. Wir wollen das auch mal im Kontext der Geschichte betrachten. Wir schreiben das Jahr 1986 und wirkliche jeder Deutsche (oder seine Angehörigen) mit Leberzirrose im Endstadium, allen tödlichen Krebsarten, fehlenden Gliedmaßen oder Antiständerpimmel fährt zum Wallfahrtsort der Schwarzwaldklinik, um sich von Professor Brinkmann behandeln zu lassen.
    Es gibt noch Aufzeichnungen in Hülle & Fülle davon.
    Selbst die Lindenstraße wurde damals in größten Teilen real verstanden.
    Das ist über die Generation hinweg nicht besser geworden, trotz Neuland, vermutlich aber auch gerade deswegen.
    Dagegen hilft offenbar nicht mal ein Master an einer aktuellen Universität, wie man auch unlängst bestaunen konnte.

  14. Ja, ja? Unterschiede zwischen Ost und West und doch keine.
    Ich könnte in der Geschichte etwas nachhelfen. Bin auch Dipl.-Ing. Im Masch.-bau, kannte die ALTEN und viel mehr.
    Ich würde mich freuen, über einen ev. Kontakt.

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