Die G20-Medien-Hölle

tagesschau.de vom 10. Juli 2017

tagesschau.de vom 10. Juli 2017

Ich war bei den diesjährigen G20-Protesten in Hamburg nicht dabei. Ich kann also nicht berichten, was sich wann und wie vor Ort wirklich abgespielt hat. Für die bürgerlichen Massenmedien, die natürlich immer sofort zur Stelle sind, um das Kapital zu verteidigen und um systemkritische Menschen zu diffamieren, sind die Schuldigen stets die Gleichen: die Demonstranten. Auch das Ritual, nur von Randale, Chaos und Gewalt zu berichten, anstatt auch mal einen Veranstalter und/oder Demonstranten zu interviewen, also die eigentliche Motivation für den Protest komplett medial zu verschweigen und zu ignorieren, wird bei großen Protesten schon seit Jahrzehnten so gehandhabt. Auch von Agent Provocateurs ist natürlich nie eine Rede. Eine kleine Presseschau. Natürlich ohne Links, denn man muss die Systempresse nicht auch noch mit Klicks unterstützen. ;)

spiegel.de vom 7. Juli 2017

spiegel.de vom 7. Juli 2017

2007 war ich beim G8-Protest in Heiligendamm dabei und hatte zum ersten Mal ein richtiges Erweckungserlebnis. Denn das, was ich vor Ort erlebt hatte und das, was die Presse ‑auch und vor allem die Tagesschau- daraus gemacht hatten, war an kognitiver Dissonanz kaum zu überbieten. Von Inhalten der Protestbewegung war damals überhaupt keine Rede. Es gab hunderte, wenn nicht gar tausende Menschen, die etwas zu sagen hatten bzw. gerne interviewt worden wären, aber das geschah zum großen Teil einfach gar nicht. Stattdessen wurde nur nach vermeintlicher Gewalt gesucht. Es gab damals wohl am Rande auch ein paar kleine Scharmützel, die aber eben auch ‑wie sich später herausstellte- mit von der Polizei gezielt provoziert wurden.

faz.net vom 7. Juli 2017

faz.net vom 7. Juli 2017

Das Einsetzen von Agent Provocateurs, um das harte Vorgehen der Polizei im Nachhinein zu rechtfertigen, wird offiziell zwar immer verschwiegen oder als Verschwörungstheorie gebrandmarkt, ist aber in Sicherheitskreisen eine völlig übliche Vorgehensweise. In einem Interview äußerte ein Polizist, der anonym bleiben wollte, im Jahr 2012:

Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann.“

Aus: Hamburger Abendblatt. 18. Oktober 2010 (bezahlpflichtig). wikipedia.org

suedeutsche.de vom 7. Juli 2017

suedeutsche.de vom 7. Juli 2017

Das, was ich dieser Tage über die vermeintliche Eskalation beim G20-Protest in Hamburg medial serviert bekomme, liest sich für mich wie die übliche narrative Medienerzählung und weniger, wie eine ‑zumindest in Ansätzen versuchte- objektive Berichterstattung der tatsächlichen Ereignisse vor Ort. Die Botschaft ist eindeutig: linke Autonome, Anarchisten, Chaoten und Gewaltverbrecher verwandeln Hamburg in einen Bürgerkriegszustand. Beim kleinbürgerlichen Biedermeier-Welt-Ignoranten, der ja stets nichts weiter als seine besitzstandswahrende Schrebergarten-Ruhe will, kommt dann die Botschaft an, dass diese Protestler gar keine Botschaft hätten. Außer Chaos und Gewalt.

Das Blog wareluege bringt es jedoch auf den Punkt:

»Wen haben jemals die vom Wertewesten per Bomber und Drohnen zerstörten Autos, Häuser und Existenzgrundlagen von Serbien über Afghanistan bis Syrien interessiert? [...]
Unsere Empörung ist mit abgefackelten Autos am Straßenand in Hamburg schon vollkommen ausgelastet, nicht wahr? Da können wir uns nicht auch noch mit unbedeutenden kleinen „Übungen“ der US-amerikanischen Luftwaffe und ihrer friedensliebenden Verbündeten befassen!«

nzz.de vom 7. Juli 2017

nzz.de vom 7. Juli 2017

Das es nach der Banken‑, Griechenland‑, Syrien- und Flüchtlingskrise, kombiniert mit stetig steigender (gewollter!) Massenarmut, NSU-Skandal, Privatisierungswahnsinn, Überwachungsgesetze, Internet-Zensur, Lohnarbeit-Selbstentfremdung etc. etc. durchaus legitime Kapitalismuskritik von links gibt (aber natürlich auch ohne Skandale eine Daseinsberechtigung hat!), wird natürlich von der neoliberalen Lücken- und Kampfpresse mit allen Mitteln ignoriert, verschwiegen und unterdrückt. Denn es ist ja nun wirklich nicht so, als wären in Hamburg nur die »Radikalen« unterwegs gewesen. Aber nur die bekommen die Aufmerksamkeit, weil man so den Protest als Ganzes perfekt diskreditieren kann. Eine seit Jahrzehnten praktizierte Methode.

welt.de vom 7. Juli 2017

welt.de vom 7. Juli 2017

Außerdem lenkt diese einseitige Konzentration und Gleichschaltungs-Berichterstattung (wieder einmal) von allen anderen, grad aktuellen Skandalen ab. Beispielsweise davon, dass der NSU-Untersuchungsausschuss nach rund fünf Jahren, zahlreichen Pannen, Fehlern, Versäumnissen  unglücklich und zufällig zu Tode gekommenen Zeugen (plus weiteren Euphemismen) und vor allem komplett ohne Aufklärung, seine Arbeit einfach einstellt. Vom grundgesetzwidrigen Privatisierungs- und Überwachungswahnsinn kurz vor Ende der Legislaturperiode ganz zu schweigen. Übrigens kostet das G20-Treffen den Steuerzahler mehr als 100 Millionen Euro. Soviel dazu, wenn es mal wieder heißt, für marode Schulen, Universitäten und Kindergärten sei kein Geld da.

fr.de vom 7. Juli 2017

fr.de vom 7. Juli 2017

Aber es gibt noch Lichtblicke. Individuen, die in Elfenbeintürmen leben und absolut nicht verstehen können, warum immer mehr Menschen eine enorme Wut, Zorn und Ärger haben. Weshalb sie die strukturelle Gewalt von Politik, Behörden und Wirtschaft nicht länger hinnehmen wollen. Beispielsweise der Karl-Theodor zu Guttenberg — Verteidiger Nikolaus Blome:

»Ich finde es seltsam, dass Leute auf die Straße gehen gegen Geld und gegen Globalisierung.«
Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur von BILD, im Deutschlandfunk Kultur über die Kunstaktion »1.000 Gestalten« und die Proteste gegen den G‑20-Gipfel in Hamburg

Auch Anwälte und Journalisten werden nicht verschont. Der Polizeistaat Deutschland in Aktion. Jungewelt.de vom 8. Juli 2017

Auch Anwälte und Journalisten werden nicht verschont. Der Polizeistaat Deutschland in Aktion. Jungewelt.de vom 8. Juli 2017


Alternative Perspektiven, Analysen und Bewertungen  ‑abseits der gleichgeschalteten Systempresse- gibt es unter anderem hier:

7 Gedanken zu “Die G20-Medien-Hölle

  1. Chris Hedges erwähnte letztens in einer Rede, die auf youtube zu finden ist, dass Martin Luther King die Orte seiner Civil Rights Märsche gezielt danach aussuchte, wo die schärfsten Polizeipräsidenten — oder wie man das in den USA nennt — und daher die härteste Polizeigewalt gegen die Demonstranten zu erwarten war. Die Voraussetzung für dieses Vorgehen war wohl eine ungeheure Disziplin innerhalb der Bewegung, sich von den Bullen nicht provozieren zu lassen. So konnte die Bewegung nach und nach immer mehr Menschen für sich gewinnen, weil die Bullen die entsprechenden Bilder lieferten und nicht umgekehrt...

  2. Ich möchte dann auch noch etwas zur Bekämpfung des Mythos vom »guten Polizisten« beitragen. In letzter Zeit läuft ja (wieder mal) eine dümmliche Propagandakampagne zum Thema.

    Hier mal etwas Material um die Sache kritischer zu sehen.

    Zwei Beispiele: (Video ist nur ein paar Sekunden lang)
    https://www.youtube.com/watch?v=ZAINKGWHOUA
    oder das hier:
    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/stuttgart-21-protest-wasserwerfer-opfer-bleibt-auf-einem-auge-blind-a-722939.html

    Daneben sind die Behörden immer wieder mal wegen Fälschung/Vernichtung von Videomaterial und Aktenmaterial in die Schlagzeilen gekommen. Zuletzt im Zusammenhang mit Anis Amri. Auch bei den NSU-Fällen gab es viel Aktenvernichtung. Warum wohl?

    Und final: Wer etwas im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, der hat auch mitbekommen, dass der deutsche Beamtenapparat kritiklos und bereitwillig beim Massenmord »damals« mitgeholfen hat. Von der Seite braucht man also kein tugendhaftes oder ehrenwertes Verhalten erwarten.

  3. Dank für Ihre Dokumentation. Hier meine begründete Meinung

    Krawallos sind keine Linke

    Ein schlichtes politisches Gemüt könnte zum hier angesprochenen Sachverhalt meinen: Entweder waren die Damen & Herren des »Schwarzen Blocks« selbst überwiegend Provokateure und Agenten des deutschbürgerlichen Staats — oder aber, sofern als politische Linke mit ganzdeutschen Verhältnissen vertraut, nicht nur geschichtslos: Es gab 2007 Heiligendamm mit damals selbst steinewerfenden und andere dazu ermunternden vermummten Polizeiagenten ... sondern auch politisch so dumm, daß sie überwiegend Agenten und Provokateuren dieses Staates aufgesessen sind und situativ in deren Falle tappten. So gesehen, gab es seit der Demo am Freitagnachmittag 7. Juli ab Landungsbrücke St. Pauli und später dann auffm Fischmarkt keine großmedial breitgeschwurbelte »sinnlose Gewalt«. Sondern im Kern vom repressiven Staatsapparat veranlaßte polizeiliche Gewaltprovokationen, bei denen sich vermutlich nicht zufällig auf der Schanze auch bald Brüller, Jungkrawallos, Hooligans, Haudraufs und Plüderer einfanden

  4. Also es gibt meiner Erfahrung nach durchaus Menschen nicht mehr allzu jungen Semesters, die sich als linksradikal verstehen und die etwa »Entglasungen« nach eigenem Bekunden für hochgradig politisch halten. Die Nachfrage meinerseits in welcher Weise konnte mein Gegenüber dann nicht mehr beantworten.

  5. Wenn wir von Medienrandale sprechen, darf die Verwurstung des Gipfels in Talkshows nicht unerwähnt bleiben. In systemkonformer bis hin zu total ignoranter Manier werden von der jeweiligen, schlecht informierten und parteiischen Moderatorinnen Fragen gestellt, die schon längst beantwortet wurden, und die für die reaktionäre Fraktion der Gäste eine Steilvorlage bilden. Wer sich als Diskutant in derartigen Inquisitionstalks nicht distanziert, stattdessen analysiert, differenziert und kontextualisiert, kommt kaum zu Wort, wird zum Abschuss durch den Rest der Truppe freigegeben oder beleidigt.

    Den Auftakt bildete das ZDF mit Dunja Haylali (2016: Goldene Kamera in der Kategorie Beste Information) die dermaßen naiv tut, dass man sie am liebsten ans Händchen nehmen und zurück zum Sandkasten geleiten möchte. Grünenopa Christian Ströbele war mit seiner Rolle als verständiger Beobachter vor Ort total überfordert. Haylali ist die inhaltsleere weibliche Ausgabe des ehemaligen Polit-Talkers Jauch.

    Medieathek: https://www.zdf.de/politik/dunja-hayali/dunja-hayali-sendung-am-12-juli-2017–100.html

    Gestern Abend bei Maischberger war mal wieder Jutta Ditfurth das Ziel der Aggressionen von Bosbach, Jörges und Kumpane. Maischberger verlor zeitlich die Kontrolle, weil alle durcheinander schrien. Als Bosbach die Schilderung tatsächlicher Ereignisse (Polizeigewalt) durch Jutta D., die die ganze Zeit vor Ort war, nicht mehr ertragen konnte, verließ er empört das Studio.

    Mediathek: http://www.daserste.de/unterhaltung/talk/maischberger/index.html

    Heute Abend werden bei Maybritt Illner um 22.15 Uhr im ZDF Hubertus Heil (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) auf Katja Kipping losgelassen, von der zu erwarten ist, dass sie sich im Bemühen um den Verlust von Wählerstimmen möglichst gering zu halten, von jeglicher Gewalt distanziert, distanziert und nochmal distanziert.

    https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/streit-statt-loesungen-scherbenhaufen-nach-dem-gipfel-sendung-vom-13-juli-2017–100.html

    Am Rande wäre noch zu erwähnen, dass der Wagenknecht-Basher Markus Lanz das Thema ebenfalls am 11. und 12.07.2017 durchgenudelt hat. Plasberg macht mit »Hart aber fair»bis 21.08.2017 Ferien und verpasst einen seiner größten Showauftritte nebst Quotenhöchstzahlen, was mich tierisch freut.

  6. @all

    Vielen Dank für die wichtigen Ergänzungen!

    Spätestens beim nächsten »Gipfel« kann dieser Beitrag plus Kommentaren hier, als Chronik der Ereignisse fungieren. Denn ich bin mir sicher, wir werden solche Schmierentheater noch öfter erleben.

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