Ziegenjournalismus (1): Advertorials

Haben Journalisten den Mut, die Hand zu kritisieren, die sie füttert?

Die großen bürgerlichen Massenmedien bezeichnen sich gerne als »Leitmedien« (Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit, BILD). Sie seien für die Demokratie konstituierend und für den Einfluss auf die öffentliche Meinung von entscheidender Bedeutung. Seit einigen Jahren schiessen sie aus allen Rohren gegen alternative Medien. Dort sollen primär Verschwörungstheorien, Populismus und Fake News verbreitet werden. Gleichzeitig feuern diese mit pauschalen (Wert-)Urteilen zurück: »Lügenpresse«.

Was mir bei der ganzen Debatte zu kurz kommt, sind die alltäglichen Fehler, Ungereimtheiten, Verzerrungen, Halbwahrheiten, Übertreibungen, Falschzitate, Skandalisierungen sowie die gezielten Methoden von Print- und Online-Medien, die schon als völlig »normal« gelten, es aber eigentlich nicht sein sollten und nicht sein dürften. Denn genau diese Methoden haben primär mit zum Vertrauensverlust der Bevölkerung in die vermeintlich etablierten Massenmedien beigetragen. Um die soll es zukünftig in der neuen Rubrik »Ziegenjournalismus« gehen. Heute starten wir mit »Advertorials«.

Werbewahrheiten
Als »Advertorial« (Advertisment: Werbung sowie Editorial: Leitartikel) wird ein redaktionell geschriebener ‑oder von einer PR- oder Marketing-Firma zugeschickter- Beitrag bezeichnet, der offensichtlich als Werbeanzeige dient, aber eben nicht als solcher markiert ist. Und obwohl nach deutschem Presserecht und Pressekodex nicht gekennzeichnete werbliche Beiträge ein Verstoß gegen das Landespressegesetz und gegen §3 UWG und §5UWG sind, scheint das in der alltäglichen redaktionellen Print- und Online-Praxis kaum jemanden zu interessieren.

Und wenn die Beiträge doch einmal gekennzeichnet sind, dann entweder sehr klein und unauffällig oder sie sind mit einem der zahlreichen Euphemismen versehen: »Sponsored Content«, »Native Advertising«, »Deals« oder »Produktinformation«. Hintergrund dürfte vor allem die allgemeine Abscheu gegenüber kommerzieller Propaganda (denn nichts anderes ist »Werbung«) sowie die große Verbreitung von Adblockern im Web sein. Redakteure und Journalisten betonen jedoch immer wieder, dass Redaktion und Anzeigenabteilung voneinander getrennt seien und es somit gar keine Einflussnahme gebe. Dabei ist es eine banale Erkenntnis: wer den Laden finanziert ‑und das sind die großen Anzeigenkunden- hat auch die Macht.

Print- und Online-Medien sind mittlerweile voll von bezahlten und nicht gekennzeichneten Werbebeiträgen. Der ständige Verstoß gegen das Landespressegesetz sowie den Pressekodex ist heute völlig unaufgeregter Alltag. Da schreibt beispielsweise der Online-Redakteur Stefan Trunzik auf der Technik-Seite winfuture.de einen top-recherchierten, natürlich redaktionell erstellten und unabhängigen Artikel zum Thema »Handel & E‑Commerce«:

»Angebote bei Lidl: Viele Technik-Schnäppchen im Prospekt & Online«

»Auch heute starten wieder neue Angebote beim Discounter Lidl. Stark reduzierte Technik-Schnäppchen findet man vor allem im Prospekt des Online-Shops.«

Der Beitrag ist nirgends als Werbeartikel gekennzeichnet. Es interessiert auch absolut Niemanden mehr, dass der Journalismus längst von der PR- und Marketing-Industrie einverleibt wurde. Beliebt sind auch vermeintliche »Hardware-News« oder »Produkt-Vergleiche« bei denen natürlich die genaue Produktbezeichnung und der Preis genannt werden. So textet beispielsweise Nils Raettig auf gamestar.de:

»AMD Ryzen 5 3400G im Test — Spiele-Benchmarks der CPU und der Grafikeinheit«

»Der Ryzen 5 3400G von AMD stellt sich in unserem Test mit Benchmark-Vergleich dem Vorgänger Ryzen 5 2400G und anderen Ryzen- sowie Intel-CPUs.«

Auch das gilt scheinbar nicht als Werbebeitrag, denn er ist nicht als solcher gekennzeichnet. Die Beispiele lassen sich hier endlos fortsetzen. Von Urlaubs- und Hotel-Empfehlungen auf N‑TV, über YouTube-Influencer bis hin zu gekauften Blogs. Leider ist die immer größer werdende, häufig nicht sichtbare Werbe-Verseuchung durch alle Medienkanäle, absolut kein Thema in der Öffentlichkeit. Sie wird jedoch ihren Teil zum Vertrauensverlust gegenüber den etablierten Massenmedien beigetragen haben, weil die Leser merken, dass kommerzielle (Medien-)Interessen stets größer zu sein scheinen, als die Interessen der Mehrheit.


Presseblick
»Journalismus unter Beschuss«

3 Gedanken zu “Ziegenjournalismus (1): Advertorials

  1. Bei dieser Überrepräsentanz von Werbung fragt man sich, wozu brauchen die das eigentlich? Wozu lassen die dafür so viel Geld springen? Von einem Überangebot an Kauf-Aufforderungen gibt es doch nicht mehr Kunden oder haben diese mehr Geld in der Tasche. Konkurrenzkampf lohnt sich nur, wenn es da was zum Konkurrieren gibt — das sowohl auf der Käufer- als auch auf der Verkäufer-Seite.

  2. Gut und treffend beschrieben. Ich selbst lese aus diesem Grund keine Zeitschriften, Computermagazine mehr.

    Zusätzlich finde ich es schrecklich, wenn ich heute auf dem Bahnhof an jeder erwarteten und nicht erwarteten Ecke mit Werbung zugeballert werde. Ob die Werbung auf dem Boden ist, auf der Rolltreppe, Werbung getarnt als kostenlose Zeitschrift, Plakate an der Wand neben der Rolltreppe, überall die Displays mit Werbung und echten Infos, ... Aber auch die zugeklebten Straßenbahnen, Busse, Häuserwände, ... sind unerträglich. Dem zu entkommen ist fast unmöglich.

  3. Das für mich wirklich Faszinierende ist die absolute Resistenz gegenüber bloßen Tatsachen.
    Um die Maschinerie des Kapitalismus am Laufen zu halten müssen mit jeder Runde immer mehr Leute an den Rand gedrängt werden, damit die großen Vermögen weiter gefüttert werden.
    Und dann stehen sie wie blöd da, fragen sich warum nicht genug verkauft wird und die Lösung kann selbstverständlich nicht in höheren Löhnen, Renten usw. oder gar in einem anderen Wirtschaftssystem liegen, NEIN, es muss nur mehr Werbung gemacht werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.