Der stille Schrei

»Wenn man ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit und Respekt für den anderen hat, kündigt man jeden Job in den ersten fünf Minuten. Also kämpfe ich gegen mich selbst und akzeptiere die Herrschaftsbeziehungen.«

- Mustapha Belhocine. »Mein erster Job im Jobcenter«. Le Monde Diplomatique. Mai 2015. S. 21

Anmerkung: Wenn mich jemand danach fragt, was die ständige Redewendung von Selbstentfremdung durch Lohnarbeit eigentlich konkret bedeuten soll, dann trifft es das obige Zitat in knappen Worten ziemlich genau.

2 Gedanken zu “Der stille Schrei

  1. Gut auf den Punkt gebracht. An dem Punkt, an welchem man ein völlig »normales«, klassisch-strukturiertes Lohnarbeitsverhältnis eingeht, hat man ja schon ne gewaltige Selbstentfremdungsorgie hinter sich; vor allem im »Kampf« um die Stelle — und die (faulen) Kompromisse, die man eingeht (sich also möglichst billig verkauft). Aber dann geht es mit dem »Wettbewerb« erst richtig los — und nirgends ein Schiri, der bei groben Fouls pfeifen würde; im Gegenteil! Ich hab meine 1. Lehre im eigentlich eher drögen, kaufmännischen Bereich gemacht. In der Höhle der Löwinen, dem kleinen Büro einer Maschinenbaufirma bekam ich dann von zwei ihr Revier verteidigenden »Dominas« zu spüren, wie der Hase läuft; man sabotierte, wo man nur konnte — damit ja keine Konkurrenz entsteht.

    Die tragikomische Serie »Stromberg« stellt es eigentlich (noch zu) gut dar — und auch aus meiner Zeit im Finanzamt kann ich auch sagen: Büro ist Krieg — aber ohne jede Regeln! Wer da als sozial eingestellter Mensch grundsätzlich fair spielt, hat von Anfang an verloren; in jeder Beziehung — lässt sich auch nicht durch »Leistung« kompensieren (höchstens durch einen dicken emotionalen Panzer). Anpassung, Arschkriecherei, Intrigen, Mobbing, Diebstahl von Ideen oder Arbeiten... wer »Schwäche« zeigt, wird gnadenlos zerrissen!

    Mich wundert dies bezüglich eigentlich nur, warum es so viele schaffen, da nicht depressiv zu werden — da hilft wohl auch ein »gerüttelt Maß an Dummheit«. Marc-Uwe Kling:

    »Es ist kein Wunder,
    sagte der Vater zum Knaben:
    dass die Dummen glücklich sind
    und die Schlauen Depressionen haben«.

  2. Manchmal kommt die Einsicht aber erst im Laufe der Erwerbsbiografie nach Abschluss der Aus- und Fortbildung. Man bekommt mit, wie jenseits des Strafrechts ganz normales Verwaltungsunrecht zur alltäglichen Praxis gehört. Remonstrationen helfen da nicht weiter. Am Ende nimmst Du Dir die eine oder andere wichtige Bauakte nach Feierabend mit und schmeißt sie an der nächsten Bushaltestelle in den Papierkorb.

    Am Ende ein Jahr lang in einem leeren Büro isoliert, ohne Post, ohne Aufgaben, ohne Teilnahme an den regelmäßigen Dienstbesprechungen als Disziplinarmaßnahme wg. des Verdachts auf Whisteleblowing, weil ich da bereits unkündbar war.

    Viele meiner politischen Freunde meinten, ich möge doch konsequent sein, dieses hierarchische System verlassen und selber kündigen. Ich hielt dagegen, dass es doch eigentlich unter den 500 Kolleginnen und Kollegen mehr geben müsste, die Sand im Getriebe sein sollten. Eine Illusion

    Die Tatsache, dass ich nach 45 Jahren in öffentlichen Dienst nicht mal in die Nähe einer Führungs- bzw. Leitungsfunktion kam, betrachte ich als Auszeichnung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.