Neusprech: (Wirtschafts-)Wachstum

»Mehr Wachstum bekommen wir nur hin, wenn wir ohne Lohnausgleich wieder mehr arbeiten. Es ist eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen, wenn ein top ausgebildeter Ingenieur nur 38 Stunden pro Woche arbeitet.«

- Henning Kagermann, Manager, SAP auf wirtschaftszitate.de

Deskriptiv definiert bezeichnet der Begriff den zeitlichen Anstieg einer bestimmten Messgröße. Hierbei wird in verschiedenen Wachstumsarten, wie z.B. linear, expotentiell oder beschränkt unterschieden.  In der Biologie ist das Schlagwort, sowie sein Gegenteil die Schrumpfung bzw. der Zerfall, die Grundeigenschaft des Lebens. Auch findet keine positive oder negative Wertung des Begriffs statt. Schließlich können neben Pflanzen auch Krebsgeschwüre oder andere Krankheiten wachsen. Er bezeichnet hier also nur den Zustand bzw. den Prozess als solches. Anders sieht es in den Wirtschaftswissenschaften aus, die diesen biologischen Terminus neu besetzt haben.

Das Wort »Wirtschafts-Wachstum« ist in unserem Sprachgebrauch ein sog. Soll-Begriff. Neben seiner deskriptiven Bedeutung, nimmt er eine auffordernde und befürwortende Stellung ein — besitzt somit eine positive deontische Bedeutung. Die biologistische Herkunft des Terminus soll zugleich suggerieren, dass Wirtschaftswachstum, sprich: der Kapitalismus ein natürlicher Vorgang sei. Und weil der Begriff so schön positiv konnotiert ist, spricht man auch nicht von einer Schrumpfung der Wirtschaft, sondern vom sog. »negativen Wachstum«. Quer durch alle Parteien und Lager hinweg, wird das Wirtschaftswachstum einhellig als Lösung vieler Probleme propagiert. Dabei sind die Ressourcen und Märkte der Erde begrenzt, wie Elmar Altvater schon vor Jahren in »Grenzen der Globalisierung« aufgezeigt hat.

Man könnte auch naiv fragen, warum wir eigentlich ein stetiges Wirtschaftswachstum brauchen? Wäre ein Grossteil der Menschen nicht zufrieden und glücklich, wenn sie ihre Grundbedürfnisse auf gleichbleibendem Niveau gesichert und gedeckt wissen? Die immer wiederkehrende Propaganda, dass es den Menschen bei steigendem Wohlstand besser gehe, trifft nur auf eine Minderheit zu. Schon heute könnte die ganze Welt ernährt werden und niemand müsste hungern. Nahrungs- und Produktionsmittel, um dies zu bewerkstelligen sind ausreichend vorhanden. Trotzdem hungern weltweit über 850 Millionen Menschen. Das entscheidende Problem ist insofern nicht das vermeintlich mangelnde Wirtschaftswachstum, sondern die weltweite Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

»Wachstum erhöht den Lebensstandard der Bevölkerung, schafft Arbeitsplätze, kann soziale Konflikte besser lösen helfen«

- INSM aus ihrem Online-Lexikon

4 Gedanken zu “Neusprech: (Wirtschafts-)Wachstum

  1. Ich muß dem Herrn Kagermann Recht geben, es ist wirklich eine unglaubliche Verschwendung von menschlichen Resourcen, wenn ein hochkreativer Ingenieur 38 Stunden in der Woche arbeitet. Er sollte maximal 20 Stunden arbeiten, damit er seine Kreativität auch optimal nutzen kann!
    Es gibt Studien u.a. von Kellogs, daß eine tägliche Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden in einer höheren Fehlerquote, höheren Unfallquote und schlechterer Leistung erzeugt. Im Gegensatz zu dem Irrglauben profitorientierter Manager ist die Arbeitsleistung eines Menschen eben nicht linear steigend! Ab 4–6 Stunden Arbeit fällt die Leistung progressiv ab.
    In der agilen Software-Entwicklung (Extreme Programming) gilt die Regel, daß ein Entwickler maximal 8 Stunden am Tag arbeiten soll. Erfahrungsgemäß wird die Fehlerquote danach so groß, daß ein Weiterarbeiten wirtschaftlich sinnlos ist.

    Ich selbst habe die Erfahrung auch gemacht. Ich wurde als Nachfolger eines SysAdmins eingestellt, der wöchentlich mehr als 70 Stunden arbeitete (abrechnete). Nach einer Einarbeitungszeit von 6 Wochen konnte ich meine Arbeitszeit auf 20 Stunden pro Woche beschränken, zum einen, weil ich viele Arbeiten delegieren konnte, zum anderen aber auch, weil ich Leistung erbrachte und nicht Arbeit!

    Wir müssen noch lernen, daß nicht die Arbeit sondern die Leistung zählt. Ich habe mehrfach erleben müssen, wie Menschen, die genau genommen unfähig waren, mehr Geld erhielten als Menschen, die ihre Arbeiten effektiv und effizient erledigten. Wenn eine Person oder Firma nach Stunden bezahlt wird, dann ist es ihr natürliches Bestreben, das Maximum an Stunden zu erzielen. Und wer teuer ist, der muß auch viel wert sein! Das heißt, wer mit hohem Aufwand teuer eine Arbeit erledigt, wird in dieser Gesellschaft höher angesehen als derjeniger der die Arbeit in einem Bruchteil der Zeit erledigen kann.

    Übrigens sind aus der Softwareentwicklung Leistungsunterschiede bis zum Faktor 1:20 bekannt! Und wer da nach Arbeit bezahlt wird, der ist als Fähiger schlecht dran. Unsere Firmen und die Gesellschaft belohnen im Grunde die Unfähigen und sorgen so dafür, daß der Leistungsdurchschnitt sich an den Schlechtesten orientiert.

    Wenn Herr Kagermann also meint, daß seine Ingenieure mehr als 38 Stunden pro Woche arbeiten sollen, dann verschwendet er massiv das Talent der Fähigen. Er sollte vielmehr überlegen, wie seine Ingenieure ihre Arbeit, für die sie jetzt 38 Stunden benötigen, in 10 Stunden bewältigen können! Dann haben sie noch 10 Stunden Zeit, sich mit Softskills zu beschäftigen :-). Also 20 Wochenstunden bei gleicher Bezahlung, das würde wirkliches Wachstum erzeugen.

    Auch bei dem Begriff Wachstum sollten wir umdenken. Zur Zeit existiert ausschließlich eine quantitative Vorstellung, also immer mehr von demselben. Wir brauchen hier eine qualitative Einsicht, also immer weniger aber immer besser. Wir müssen lernen, daß Fortschritt nicht Wachstum der Quantität bedeutet, sondern Verbesserung in der Qualität. So schauen wir dann nicht mehr wie ein hypnotisiertes Kanninchen auf das Wirtschaftswachstum, sondern überlegen, wie sich das Gleiche mit weniger Aufwand erreichen läßt. Das heißt aber auch Abkehr von der Gigantomanie, denn die Größe ist kein Maß für Erfolg. Auch hier ist ein Umdenken — vor allem in der Politik — erforderlich. Viele kleine und mittlere Unternehmen sind widerstandsfähiger und anpassungsfähiger als ein Großkonzern. Dieser schreit doch sofort, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern (z.B. durch eine Finanzkrise) nach dem Staat, also nach dem Geld der vielen kleinen Firmen und Bürgern, damit er seine Unfähigkeit weiter behalten kann. Wir müssen auch hier lernen, daß pure Größe häufig zur Unfähigkeit verdammt.

    So, daß war mein Kommentar zum Jahresausklang 2008. Ich wünsche allen ein glückliches und frohes Neues Jahr.

  2. Kargermann ist ist seiner Naivität vollkommen sicher, dass Wachstum durch Lohnsenkung erreicht wird, denn nichts anderes besagt ja sein Vorschlag. Außerdem bedeutet mehr Wachstum und Wohlstand für ihn offensichtlich höhere Gewinne für die Unternehmen. Das is das dünne Brett, das die neoliberalen seit eh und je bohren. Man könnte viel dazu schreiben und der Hinweis auf den Wachstumsbegriff ist ein Fingerzeig. Viel wichtiger scheint mir aber die Festellung, dass Leute wie Kargermann, die sich gerne als Eliten und Leistungsträger sehen, vielleicht was von Management, aber sicher nicht viel von Wirtschaft verstehen. Wer glaubt, weniger Geld für mehr Arbeit erzeuge Wohlstand und Wachstum ist entweder dumm oder zynisch.
    In den oberen Etage, in denen Leute wie er sitzen scheint noch nicht angekommen zu sein, das die derzeitige Krise eigentlich eine Schuldenkrise ist (->kein Wachstum ohne neue Schulden->falls uns die Schuldner ausgehen sind wir im Arsch, da hilft dann auch längeres Arbeiten nicht mehr). Umdenken ist richtig, macht aber nur dann Sinn, wenn man an der Basis ansetzt, weil alles andere nur Zeitgewinnen wäre aber keine Lösung. Ohne Änderungen am Geldsytem drehen wir uns endlos im Kreis und laufen jedem Blödmann hinterher, der vorgibt, unser Wirtschaftsystem funktioniere. Kargermann man sitzt diesem Unsinn vom ähnlich klingenedem Professor leider auch auf. Allerdings ist er in bester Gesellschaft.
    Wir sind gerade dabei mit Schmackes gegen die Wand zu fahren und der Fahrer glaubt, er sei einfach nur zu langsam gewesen. Wenn wir ihn nicht davon abhalten, wird er es nochmal mit mehr Schwung versuchen. Scheint Spaß zu machen, sich derart dumm aufzuführen. Ein 70 ‑Schild wird an der Stelle nicht reichen, da muss ein anderes hin. Tip: es ist blau und hat ein Zeichen drauf, das wie ein »T« aussieht. Frohes Neues an Epikur und alle die hier mitlesen.

  3. spontan, ohne weiteres nachdenken, kann ich zu kagermanns satz — >Es ist eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen, wenn ein top ausgebildeter Ingenieur nur 38 Stunden pro Woche arbeitet.< — ich kann zu diesem satz nur sagen:
    herr kagermann, es gibt akademiker, die haben eine noch höher qualifizierte ausbildung als ein ingenieur — und haben überhaupt keine arbeit.

  4. Pingback: Und hier die gute Nachricht: Es gibt noch Wachstum.

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