Gehe ich in die örtliche Bibliothek zu den Bereichen Soziologie, Psychologie, Philosophie und/oder Politikwissenschaft, so gibt es dort heute primär Lebensratgeber-Bücher, Biografien, Pop-Kultur, emotionale Stellungnahmen, polemische Streitschriften und Trend-Literatur. Schriftliche Werke, die dabei helfen könnten, das große Ganze zu verstehen, Sachverhalte präzise, wissenschaftlich und analytisch zu hinterfragen sowie Strukturen, Verstrickungen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sind in öffentlichen Bibliotheken immer seltener, werden in der Schule erst gar nicht und in der Universität ‑wenn überhaupt- nur als »Bulimie-Wissen« gelehrt.
»Bislang hat es noch keine Bevölkerung gegeben, die für ihre Reise in die eigene Unfreiheit auch noch bezahlt hat.«
Harald Welzer. »Die höchste Stufe der Zensur: Das Leben in der Ich-Blase«. Blätter. Ausgabe Juli 2016. S. 62
Die innere Selbstzensur und das absolute Desinteresse an allem, was größer und komplexer ist, als das eigene Lebensumfeld, benötigt keinen Fürsten oder Diktator. Wenn die Massen ihre Lohnknechtschaft für Freiheit halten, den Kapitalismus als Naturzustand deklarieren und Datenschutz als belanglose Kleingeisterei zur Seite wischen, hat das Warum auch keinerlei Bedeutung mehr. Dann sind universelle, moralische Prinzipien, wie Menschenrechte und Nächstenliebe, nur noch subjektive, und damit unrelevante Einzelmeinungen.
In letzter Zeit begegne ich immer mehr Menschen, die sich unangreifbar machen wollen. Immer freundlich. Höflich. Lächelnd. Aalglatt. Weichgespült. Ohne Ecken und Kanten. Die mit Allerwelts-Phrasen und Small-Talk-Platitüden um sich werfen. Sie verbergen ihre ehrliche Meinung, auch bei Nachfrage. Sagen nicht, was sie wirklich denken und fühlen. Sie wollen sich alle Möglichkeiten und Optionen offen halten. Sie wissen ja nicht, wann sie jemanden mal gebrauchen, also für eigene Zwecke benutzen könnten. Sie lügen und schweigen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Die Daumenschrauben der Finanzindustrie werden weiter genüßlich angezogen. Und zwar bei jedem. Ohne meine Zustimmung wurde jetzt beispielsweise mein Girokonto-Tarif geändert. Ab dem 1. Dezember soll ich für jede Barauszahlung 30 Cent, für die Benutzung eines Kontoauszugsdruckers 60 Cent und für die Einzahlung von Münzgeld 7,50 Euro abdrücken. Ich packe also mein Geld auf die Bank, sie arbeiten, verleihen und verzocken es und dann wollen sie noch übertriebene Gebühren dafür haben? Eigentlich müssten sie mir dafür Geld geben! Ich überlege gerade ernsthaft zu kündigen und die Bank zu wechseln, vermute aber, dass die Tarife sich mittlerweile überall ähneln werden. Warum sollte ich mein Geld eigentlich überhaupt noch zur Bank tragen?
Auch wenn das wieder ein typisches Mann-Frau-Spaltungsthema sein mag, so muss ich mich heute über die immer wieder auftauchenden Trennungsfloskeln auslassen. Ähnlich wie bei den
Als...
Wir leben in einer Welt, in der Freidenker und das eigenständige Denken –mit Ausnahme von funktioneller
Lohnarbeit, Ernährung, Wohnungseinrichtung, Haus, Garten, Auto, TV-Programm, Selbstoptimierungs-Sport, Facebook, smartphone, Geld, Familien-und-Arbeitskollegen-Getratsche, Kinder, WhatsApp, Alltags-Gedöns — Das sind die Themen, die den Deutschen bewegen. Immer. Überall. Und sowieso. Alles andere ist ja sooo anstrengend. Der radikale Rückzug ins Private, das neue Biedermeier, paart sich mit dem Lohnarbeits-Fetisch, einem vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem
Früher war die individuelle Sexualität Privatsache. Teil des Charakters und der persönlichen Selbstbestimmung. Etwas, dass man nur selten offensiv in die Öffentlichkeit getragen hatte. Keine Marke, Image oder ein Franchise. Und damit will ich explizit nicht sagen, dass ich konservative Vorstellungen oder ein neues Biedermeier befürworte, sondern, dass der inszenierte Marketing-Missionseifer bei den Gender-Themen völlig ausgeufert ist. Mit geschlossenen Weltbildern sollen Dogmen, Ismen und vorgefertigte Meinungen in die Köpfe eingehämmert werden. Unternehmen fahren Marketingkampagnen und die Massenmedien freuen sich über die erhöhte Aufmerksamkeit. Dabei nervt das alles nur noch. Einige Beispiele.
Wie kann man sich eine Deutschland-Fahne an sein Auto hängen, während die Bundesregierung ALG2 verschärfen, die Video-Überwachung ausweiten, Bürgerrechte abbauen, Waffen in Diktaturen liefern, widerspruchslos US-imperialistische Befehle befolgen und weiterhin primär Politik für die Reichen und Vermögenden und gegen die Bevölkerung machen will? Wie kann man stolz auf ein Land sein, in dem man zufällig geboren wurde? Wie kann man sich eine deutsche Nationalflagge an seinen Balkon pinnen und an eine tief verbundene, zwischenmenschliche und vor allem deutsche Solidarität glauben, während der deutsche (Berufs-)Alltag von Egoismus, Rücksichts- und Empathielosigkeit geprägt ist? Ich verstehe das alles nicht. Kann mir das mal bitte jemand erklären und mich zum national-völkischen Vaterlands-Patrioten (um-)erziehen?