Digitales Utopia?

Immer wieder höre ich Technikbegeisterte oder lese Artikel, die behaupten, dass digitale Wunderland stehe kurz vor der Tür. Künstliche Intelligenz. Autonomes Fahren. Chat-Bots. Algorithmen. Digitales Geld und digitale Identität. App´s für alles und Jeden. Bequemlichkeit. Schnelligkeit. Verfügbarkeit. Die Aspekte von Kontrolle, Datenhandel und Überwachung mal komplett außen vor gelassen: ich kann darüber nur noch müde lächeln. Denn weder macht das digitale Heiland die Menschen glücklicher, noch funktioniert das alles in der täglichen Umsetzung so reibungslos, wie sich das Silicon Valley gerne wünscht. Zumindest in Deutschland.

Unempfindlich
Menschen, die kontaktlos bezahlen sind eben nicht schneller, als Bargeld-Zahler. Da werden Karten rausgesucht, falsch eingesteckt oder vom Gerät nicht akzeptiert. Kunden bei den Selbstzahler-Kassen benötigen ein vielfaches mehr an Zeit, als an einer normalen Kasse. Die diversen »Chat-und-Telefon-Bots«, mit denen immer mehr Unternehmen arbeiten, um damit Call-Center-Personal einzusparen, funktionieren vorne und hinten nicht. Da gibt es eine Handvoll FAQ-Fragen und das wars. Jede individuelle Anfrage überfordert das System. So wehrt und wimmelt man Kunden erfolgreich ab, aber man hilft ihnen nicht. Es steigert nur unnötig die Unzufriedenheit mit dem Unternehmen. Ist das etwa zielführend? Kunden unzufrieden machen und den Ruf des Unternehmens zu schädigen?

Beim örtlichen REWE werden die Etiketten der Tiefkühlprodukte mittlerweile zentral digital bespielt. Nur leider stimmt der angegebene Preis sehr oft nicht mit dem Kassenpreis überein. Ich erlebe das immer wieder, besonders wenn es einen »Aktionspreis« gibt. Die Einführung des Deutschlandtickets (49 Euro), im Frühjahr 2023, war vor allem in Berlin ein Desaster. Der Versuch mit Bots, Programmen, Tools und Automatisierungen zu arbeiten, hat beispielsweise dazu geführt, dass Menschen einen beliebigen Betrag zwischen 50 und 100 Euro vom Konto abgezogen bekommen haben (auch mir ist das passiert). Auf reklamation24.de kann man sehr schön sehen, was diese digitalen Wunderwaffen im Hinblick auf die BVG so alles können.

»Es gab bei der Abbuchung der Juni-Beträge technische Probleme, die uns bekannt sind und an denen wir mit Hochdruck arbeiten.«

- BVG-Sprecher Markus Falkner

Unzugänglich
Es gibt hier unzählige weitere Vorfälle. Beispielsweise völlig veraltete Content-Management-Systeme (CMS), inklusive fehlerhaften Softwarecodes, mit denen in unzähligen Büros und Redaktionen nur noch deshalb gearbeitet wird, weil persönliche Befindlichkeiten, Hersteller oder sonst Irgendjemand eine Aktualisierung »nicht wünschen«, weil sie zu teuer und/oder zu aufwendig wären. Der Versuch, die Verwaltung in Berlin zu digitalisieren, hat hervorragend geklappt:

»Eigentlich soll die E‑Akte den Mitarbeitern im Bezirksamt Mitte irgendwann die Arbeit erleichtern. Die Software ist allerdings so unausgereift, dass die Bürgermeisterin jetzt die Nutzung verboten hat.«

Nicht vorhandenes oder sehr schlechtes Internet, außerhalb von dichtbesiedelten, urbanen Zonen in Deutschland, ist ja mittlerweile schon »normal«. Im Mai 2022 konnte man tagelang in etlichen Märkten nicht kontaktlos bezahlen, weil es Störungen und Softwareprobleme bei den Kartenterminals gab. Was wäre hier eigentlich passiert, wenn es in Deutschland zu dieser Zeit gar kein Bargeld mehr gegeben hätte? Macht sich eigentlich mal Irgendjemand Gedanken darüber, was eine totale Abhängigkeit von digitaler Infrastruktur bedeutet, wenn diese auf einmal nicht mehr funktioniert oder gehackt wird?

»Flugpassagiere müssen heute mit Verspätungen, Ausfällen und umgeleiteten Flügen rechnen. Grund ist eine globale IT-Panne beim Lufthansa-Konzern. Bei Bauarbeiten in Frankfurt hat ein Bagger ein Glasfaserkabel durchtrennt

- zdf.de vom 15. Februar 2023

»Cypher« (2002). Dystopischer Sci-Fi-Film.

Undurchlässig
Dennoch wird natürlich weiterhin mit Hochdruck an der Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche gearbeitet. Die digitale Schule. Die digitale Identität. Eine digitale Währung. Die digitale Verwaltung. Biometrische Erfassung. Fingerabdruck im Personalausaweis. Elektronische Patientenakte. Digitaler Schülerausweis. Die Bundesregierung verspricht eine »Strategie für einen digitalen Aufbruch.« Sie ist natürlich ausschließlich positiv besetzt. Alternativen oder Bedenken gibt es keine. Beispielsweise ob eine »digitale Schule« überhaupt pädagogisch Sinn macht? Oder ob gerade Kinder nicht schon genug vor digitalen Endgeräten sitzen?

»Auch gebe es technische Entwicklungen wie eine Software, die erkennt, wenn eine Person am Ertrinken ist. Das könne dazu führen, dass weniger Fachpersonal gebraucht würde.«

- tagesschau.de vom 12. Juni 2022

Die Digitalisierung wird selbstverständlich neoliberal gestaltet. Wo es möglich ist, soll Personal eingespart und der Profit von Konzernen und Banken erhöht werden. Liberalisierung, Flexibilisierung, Privatisierung und Deregulierung von wirtschaftlichen Prozessen werden weiterhin vorangetrieben. Welche Folgen diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgestaltung, insbesondere für Bildung, Wasser, Energie, Mobilität, Wissenschaft, Gesundheitsversorgung und Medizin haben, können wir alle seit rund 30 Jahren beobachten.

Wie gesagt, hier sind wir noch nicht einmal bei den Themen Kontrolle, Datenhandel und Überwachung, sondern schlicht bei der Funktionalität, die allzuoft noch nicht einmal gegeben ist. Vielleicht ist das aber auch der beste Schutz vor einer digitalen Komplett-Überwachung. Zumindest in Deutschland.

11 Gedanken zu “Digitales Utopia?

  1. Dinge müssen auftreten. Überall. Sonst ändert sich nichts. Wenn im Job mal jemand gekündigt hat und das verbliebene Team schafft die Arbeit gerade eben auch ohne den Kollegen — dann wird auch niemand eingestellt. Dasselbe in deinem Beispiel. Erst muss das Bargeld verschwinden und dann brauchen wir einen tagelangen Stromausfall. Dann kapiert es auch die breite Masse.

  2. @Helge Petersen

    Ja, Prävention und langfristige Überlegungen bringen eben keinen Profit. Erst müssen die Dinge in irgendeiner Form »Schaden« verursachen, erst dann wird »repariert«. Neoliberaler Habitus im Endstadium.

    Erst wenn die Lehrer massenhaft den Unterricht bei mehr als 30 Kindern pro Klasse verweigern, wird reagiert werden. Erst wenn die Brücken in Deutschland mit Toten oder Verletzten eingestürzt sind, wird reagiert werden. Und erst wenn die Menschen merken, dass die totale Digitalisierung unfrei, abhängig und unglücklich macht, wird reagiert werden. Traurig.

  3. die digitale volldystopie kommt.
    wir stecken doch — und das wissen wir spätestens seit mr. snowden — längst bis zur brust in der horch-und-guck-scheiße³...

    es mag über einige jahre (in relativ nachrangigen bereichen) noch dahinrumpeln, vllt sogar zu aufsehen erregenden zusammenbrüchen kommen.

    aber das alles wird die lemming-gesellschaft nicht groß jucken.

    man wird hinter vorgehaltener hand maulen, man wird verstohlen witzchen reißen; sich am stammtisch aufregen, sich zu von systemschleim-comedians und polit-hetzclowns (welke, nuhr, ehring, böhmermann, bosetti u.v.a.) gerissenen scheinkritik-possen die schenkel klopfen...doch man wird natürlich das »große ganze« sehen:

    »die alternativlose notwendigkeit zum totalen digitalismus im globalen überlebenskampf zur erhaltung von demokratie, standort, wohlstand, freiheit, zukunftsfähigkeit...etc...pp...blabla.. .«

    der totalüberwachungs- und nachverfolgungssack ist im grunde schon zu seitdem 90+ % der menschen ohn unterlass auf ihr geliebtes, mobiles ortungsgerät starren...systemlinge, mitläufer wie kritische...

    es tut mir leid, @epikur...ich sehe hier keinen anlass mehr zu optimismus.
    man muss der realität auch ins grässliche angesicht sehen...so furchtbar und traurig es auch sein mag.

    nichtsdestotrotz sollte man die schönen momente, die bleiben, nach möglichkeit so tief genießen, wie irgendmöglich!

  4. @mo

    »nichtsdestotrotz sollte man die schönen momente, die bleiben, nach möglichkeit so tief genießen, wie irgendmöglich!«

    Völlig richtig, und dazu gehören ‑neben Liebe, Reisen, Natur, Musik, Kultur etc.- auch die Momente, wo die »große Digitalisierung« komplett versagt. Ich genieße das richtig, wenn sich dann Verantwortliche bzw. Anhänger der digitalen Utopia rauszuwinden versuchen. :-)

  5. ein guter freund von mir, der seit vielen jahren in einer unternehmenskette als verantwortlicher für it-sicherheit arbeitet, sagte mir, dass alles, was nach jeweiligem stand der technik gemacht werden kann, um menschen zu tracken und auszuspionieren, zweifellos früher oder später auch getan wird.

    auf meine frage, wie er (gerade auch als familienvater) mit diesem bedrückenden bewusstsein klarkäme, ohne zum fatalistischen, endverbitterten zyniker zu werden, antwortete er mir (sinngemäß):

    »was mich im gleichgewicht hält, ist, meine fachkenntnisse zu nutzen, um anderen (jedoch nur, so sie ernsthaft interessiert sind), in sachen datenschutz zu helfen, soweit und solange das eben möglich ist in diesem ungleichen »hase-und-igel-rennen« gegen gigantische datenhydren.

    es macht mir diebische freude, ein ätzender widerhaken-stachel im anus dieser perfiden schnüffler zu sein -
    und das bis zum letzten atemzug.«

    ick liebe diesen mann! :-)

  6. nachtrag:

    zitat epikur:

    »Ja, Prävention und langfristige Überlegungen bringen eben keinen Profit. Erst müssen die Dinge in irgendeiner Form »Schaden« verursachen, erst dann wird »repariert«. Neoliberaler Habitus im Endstadium«.

    jenau so issit — hier neoliberale, ins verderben führende blödheit/gemeinheit, durch sich selbst bildlich bewiesen:

    https://ddrm.de/fdp-digital-first-bedenken-second-denken-wir-neu-ueber-datenschutz-und-informationelle-selbstbestimmung-nach-herr-lindner/

  7. Solange wie sogenannte Bildungsminister, oder auch Innen,
    gerade noch die Fähigkeit besitzen, die Maus über den
    Tisch zu schieben, wird das nichts mit der Digitalisierung.
    Kinder mit 6 ‑10 Jahren können immer schlechter
    lesen und schreiben, aber fürs Handy datteln und TikTok
    reicht es allemal. Eine Erfolgsgeschichte in ganz
    Deutschland. Blöd sein ganz ohne Bildung, die
    perfekten Arbeitskräfte für die Industrie.

  8. Das folgende habe ich auf der Webseite einer deutschen Universität gefunden. Es geht um ein Achtbarkeits-Seminar, und zu einem der Termine steht dort:

    Digital Detox Retreat, evtl. online.

    Hamma gelacht...
    (Wahrscheinlich merken die Leute gar nicht mehr, was sie da tun.)

  9. Wenn ich schon das Wort Digitalisierung aus dem Mund eines
    Verantwortlichen höre, bin ich Nahe des Ohrenkrebs-
    Patienten. Ausser die Maus über den Tisch zu schieben und
    ein Kreuz in einer Excel Tabelle zu setzen sind schlicht
    weg keine digitalen Kompetenzen zu erkennen. Haupt-
    sache man hat das richtige Parteibuch und der
    Vollversorgungsposten ist gut bezahlt, vom
    Steuerzahler natürlich.

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