Neusprech: Wirtschaftsflüchtling

»Niemand setzt alles aufs Spiel, lässt alles los – die Heimat, Besitz, Familienangehörige, vielleicht sogar Kinder – und das alles nur in der Hoffnung auf den Bezug von Sozialleistungen.«

- proasyl.de vom Juli 2015

ZG-Artikel: Neusprech HeuteAls Wirtschaftsflüchtlinge werden Aussiedler bezeichnet, die nicht wegen Krieg oder politischer Verfolgung ihr Land verlassen hätten, sondern primär aus ökonomischer Not heraus, die beschwerliche Reise angetreten sind. Der Begriff steht damit in direkter Abgrenzung zum Kriegsflüchtling. Weitere negativ konnotierte Wörter in diesem Zusammenhang sind: Elendsflüchtlinge, Sozialtouristen (Unwort des Jahres 2013), Integrationsverweigerer oder Armutszuwanderer.

Der Terminus ist primär ein politisches Instrument, eine soziale Konstruktion, um eine Verschärfung des Asylrechts zu legitimieren. Er ist weder ein wissenschaftlicher Fachbegriff, noch bezeichnen oder betrachten sich Auswanderer selbst als Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge. Denn in den allermeisten Fällen sind die Fluchtursachen immer eine Gemengelage von ökologischen, ökonomischen und auch politischen Gesichtspunkten. Hinzu kommt, dass viele Länder, wie beispielsweise Serbien, durch NATO-Kriege in der Vergangenheit auch ökonomisch zerstört wurden.

Gute Ausländer, böse Ausländer
Es gibt die vermeintlich hilfreichen Migranten (Import und Integration von Fachkräften aus dem Ausland), die nützlichen Kriegsflüchtlinge (gebildete Akademiker, die man mit weniger als Mindestlohn abspeisen kann) und die überflüssigen Ballastexistenzen (vermeintlich integrationsunwillige Armutsmigranten, die hauptsächlich im ALG 2 Bezug stecken bleiben). So werden in Deutschland heute politisch, medial und gesellschaftlich, Hunderttausende Menschen, die das Trauma des Krieges, der politischen Verfolgung oder der bitteren Armut erlebt haben, in eher positiv oder negativ konnotierte Schubladen verfrachtet, um das Asylrecht im Sinne der angeblich »sicheren Herkunftsstaaten« verschärfen zu können. Am Ende geht es Politik und Wirtschaft (mal wieder) vor allem darum, ob das Menschenmaterial nicht zu viel Kosten verursacht und ob es ökonomisch verwertbar ist. Humane, ethische oder normative Argumente spielen in der öffentlichen Debatte (und in der privaten noch viel mehr) eine eher untergeordnete Rolle.

Eine große Gruppe von Wirtschaftsflüchtlingen sind übrigens auch die Steuerflüchtlinge. Sie fliehen vor der Verantwortung und ihrer gesetzlichen Verpflichtung, die heimische Wirtschaft, also die Kommunen und die Infrastruktur, die Schulen, Krankenhäuser, Straßen und alle anderen öffentlich wichtigen Bauvorhaben, mit ihren Steuern zu finanzieren. Genießen aber gleichzeitig alle Vorzüge der Infrastruktur. Und während die Steuerflucht der Reichen von Steuerberatern und Banken großzügig unterstützt wird, so werden finanziell arme Menschen kriminalisiert. Die heimischen ALG 2 Bezieher ebenso (»Sozialschmarotzer«), wie die vermeintlichen Armutszuwanderer (»Sexverbrecher!«).

Weitere Wirtschaftsflüchtlinge innerhalb von Deutschland sind auch all diejenigen, die vom Land in die Stadt ziehen, also vor der Arbeitslosigkeit flüchten oder von den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer oder vom armen Norden in den reichen Süden, beispielsweise von Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern nach Bayern oder Baden-Württemberg.

2 Gedanken zu “Neusprech: Wirtschaftsflüchtling

  1. Ich würde in dem Zusammenhang mal nach einem neuen Begriff suchen, der als Definition versteht »Leute, die in ihrem bestehenden Lebensverhältnissen schon mehr als den üblichen Bevölkerungsdurchschnitt ihres Landes haben, die aber in andere Länder reisen und sich als »Flüchtlinge« ausgeben, um noch mehr als das zu kriegen« und den dann anstatt »Wirtschaftsflüchtlinge« verwenden und bekämpfen.
    Denn heutzutage ist Wirtschaft auch Krieg, mittlerweile die einzige Methode mit deren Hilfe der Westen überhaupt noch einen gewinnt.
    Und wem will man es verweigern, woanders hinzuziehen, weil zu Hause die ökonomische Lage durch Großkonzerne und Privatisierungen des Staates zerstört wurde, während man das selbst ganz gut praktiziert? All die Skandinavienarbeiter und ‑auswanderer sind auch nur zum Teil Bürger dieser Länder geworden, fahren auch nur zum Arbeiten dorthin um Geld nach Hause zu schicken. Oder die Saisonarbeiter in Österreich oder die Deutschen, die in die Schweiz fahren, und dort mit ihrer Tüchtigkeit und ihrer Zufriedenheit mit weniger Lohn als die Einheimischen den Arbeitsmarkt kaputt machen. (Ich weiß, es ist genehm, weil das innerhalb der EU und ihren Partnerländern passiert. Die EU ist soetwas wie die heilige Kuh und so lang nur Bürger aus ihrer Wohlstandsgesellschaft hin und her getauscht werden ist alles in Ordnung. Auch wenn das genauso menschliche Tragödien und am Ende nicht anerkannte Rentenzeit produziert.)

  2. Für die einen, ist die Kunst der Abstraktion die Möglichkeit, Inhalte rudimentär zusammenzufassen um größere Zusammenhänge anhand einprägsamer Oberbegriffe begreiflicher zu machen. Für die Ökonomen, war dies von jeher, die Möglichkeit einer Entfremdung vom abstrahierten Inhalt her zu stellen und den Kalkulatoren die Möglichkeiten einer abstrahierenden Sicht zwischen Nützlich und Unnützem zu bieten. In beiden Fällen, geht der Inhalt auf jeden Fall immer dann flöten, wenn es sich um Menschen handelt. Eine Einsicht, die leider der Abstraktion zum Opfer fiel.

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