Neusprech: »sozial«

Sozial ist, was Arbeit schafft — diese Maxime ist oberste Richtschnur unseres Handelns«

- Gemeinsamer Beschluss der Präsidien von CDU und CSU vom 4. Mai 2003

Sozial bedeutet im eigentlichen Sinne des Wortes das Wohl anderer im Auge zu behalten und steht im Gegensatz zum Egoismus. Fürsorglichkeit, Altruismus und Hilfsbereitschaft kennzeichnen eine soziale Einstellung. Das kleine Adjektiv »sozial« wird im heutigen politischen Sprachgebrauch in vielerlei Hinsicht sprachlich normiert, um eigene Ziele und Interessen durchzusetzen. Die vielseitige Sprachmanipulation des Begriffes offenbart eine mehrdimensionale Zielsetzung.

Mindestens drei Methoden sind hierbei offensichtlich:

1.) Umdeutung: Der Slogan »Sozial ist, was Arbeit schafft« beinhaltet den Versuch den Begriff  »sozial« umzudeuten, sodass alles als sozial gelte, was Arbeit bringe, unabhängig davon, ob die Tat selbst sozial oder ethisch vertretbar ist. Die Formulierung der »sozial schwachen« Menschen beinhaltet ebenfalls den Versuch der Umdeutung, schließlich werden bei dieser Wortkonstruktion finanziell schwachen Menschen mangelnde soziale Fertigkeiten zugeschrieben, was jedoch keine zwingende Kausalität ist.

2.) Euphemismus: Die »soziale Marktwirtschaft« soll suggerieren, dass der Kapitalismus gezähmt werden könne und beschönigt eindeutige Ausbeutungsverhältnisse. Auch »sozial verträglicher« Stellenabbau ist eine Verharmlosung für die eben Gekündigten Menschen, die dann ohne eigenes Einkommen dastehen.

3.) Verunglimpfung: Da die neoliberale Ideologie den Sozialstaat am liebsten abschaffen will, um eine marktradikale Ordnung etablieren zu können sowie zur Legitimation von Ungleichheit, werden soziale Leistungen und der Sozialstaat selbst, seit längerer Zeit systematisch verunglimpft. Sei es »die soziale Hängematte«, »Sozialschmarotzer«, »Sozialneid«, »der Sozialmissbrauch« oder »der ausufernde Sozialstaat« — staatliche Solidarität wird bekämpft und als Grundübel betrachtet. Der tatsächliche Missbrauch sozialer Leistungen ist jedoch minimal. Steuerhinterziehung hingegen kostet den Staat zweistellige Milliardenbeträge.

»Die üblen Tricks der Hartz4 Schmarotzer«

- Aufmacher der BILD-Zeitung, analysiert bei bildblog.de

5 Gedanken zu “Neusprech: »sozial«

  1. in einem gewissen bereich in der gesellschaftlichen hirarchie kann man aus egoistischen gründen sozial sein. (muß ich das erklären? dann im post scriptum.) wir (superreichen) jedoch sind abgeschirmt, bewacht, beschützt. wir können uns asozalität leisten. bewaffnete diener schützen uns, das sind leute, die ihren platz kennen. (film: manderlay).

    p.s.
    ich bin nicht in der lage, mir beschützer kaufen zu können. so bin ich aus egoistischen gründen altruistisch (will mein fahrrad nicht abschließen und will deshalb, daß jeder eins hat)

  2. Ich kenn da noch ein Wort, dass dringendst analysiert gehört: »Gerechtigkeit«.

    Je nach Gusto, d.h. neoliberal (= Heinz Bude) oder nicht (=Ottmar Schreiner) versteht Mensch neuerdings auch anderes darunter.

    Übrigens, die Taktik gab es schon vor der Großen Franz. Revolution 1789, und danach, als Robespierre seine eigene Version von »Gerechtigkeit« auf den Markt brachte — mit dem sprichwörtlich durchschlagenden Erfolg der Guillotiene.

    Soll heißen:

    Heute »erklären« uns Neoliberale wie Heinz Bude was wir für »gerecht« halten sollen, und hoffentlich kommt, dank Finanzkrise (?), auch hier bald ein Umschwung, aber nicht in Richtung Robespierre...dagegen bin ich auch....Ludwig Erhardt (CDU) reicht mir da völlig....

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

  3. Ich hatte mir gestern ein Video über den Ausverkauf öffentlicher Infrastruktur angesehen. Dabei ist mir klar geworden, daß gerade die Begriffe sozial, gerecht, Eigentum, u.a. sehr massiv mißbraucht werden.
    Sozial bedeutet für mich, daß eine Gesellschaft und ihre Teilnehmer sich dem Schwachen und Schwächsten gegenüber solidarisch verhalten. Zivilisation ist sozial, denn nur sie ermöglicht es den Schwachen zu überleben. Und soziales Verhalten ist von Vorteil, denn auch der Stärkere kann einmal in die Position eines Schwächeren geraten.

    Gerechtigkeit ist dann vorhanden, wenn die Schwachen soviel Zugeständnisse bekommen, daß sie in der Lage sind, auf Augenhöhe mit den Starken zu verhandeln. Gerade dieses wird in der heutigen Gesellschaft im Namen der Gerechtigkeit und Gleichheit aber gern vergessen. Unsere Gerechtigkeit sollte diese Ungleichgewicht ausgleichen. Ein Beispiel, ein zerlumpter, vorbestrafter Junkie klaut für 10,-EUR zwei Schachteln Zigaretten und wird erwischt. Ein ebenfalls vorbestrafter, gut gekleideter Jungmanager, dessen Papi die besten Beziehungen hat, wird mit zwei Schachteln Zigaretten erwischt, die er nicht bezahlt hat. Beide landen vor Gericht. Frage, wie werden die Verfahren wahrscheinlich ausgehen? Oder anders ausgedrückt, wieviele Verfahren wird es geben?

  4. Pingback: Quasipresseschau 211 | NIGHTLINE

  5. Mittelmäßige Politiker bringen nun mal mittelmäßige Phrasen.
    Und Phrasen sind immer ein Zeichen von Ideenmangel, oder
    Hilflosigkeit.
    Mein Liebling ist zur Zeit: Man muss die Chancen der Krise nutzen.
    An alle Opelmitarbeiter, welche demnächst vielleicht ihren Job verlieren,
    an alle Leiharbeiter, welche ihn bereits verloren haben,
    an alle amerikanischen ehemaligen Hausbesitzer, die jetzt in Zelten wohnen,
    an alle Opfer irgendeiner Katastrophe.

    Ihr müsst die Chancen der Krise nutzen, oder
    Sozial ist was Arbeit schafft, — liegt doch gar nicht so weit weg, — oder ?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.