Neusprech: Sozial schwach und bildungsferne Schichten

»Es scheint für bildungsferne Schichten interessanter zu sein, in etwas zu investieren, was sich lohnt«

- Hamburgs Wissenschaftssenator Jörg Dräger in SpiegelOnline vom 08.04.2008

Um das Wort der Unterschicht und damit ein neues — altes Klassendenken zu vermeiden, werden Wortphrasen wie »sozial schwache« Menschen oder »bildungsferne Schichten« bevorzugt. Schließlich gäbe es, laut dem ehemaligen SPD Arbeitsminister und jetzt wieder SPD Chef Franz Müntefering, in Deutschland keine Unterschichten, sondern nur Menschen, die es schwer haben.

Das Schlagwort »sozial schwach« wird als Bezeichnung für Menschen mit wenigen finanziellen Ressourcen verwendet. Da der Begriff jedoch impliziert, dass ein Mensch mit wenig Geld zugleich auch soziale Probleme schürt oder besitzt, wie z.B. Kriminalität, Alkoholkonsum oder mangelnde Kommunikationskompetenzen, ist der Begriff diskriminierend. Einen generellen kausalen Zusammenhang herzustellen, dass wenig Geld gleich wenig Mensch bedeutet, ist menschenverachtend.

Ähnlich verhält es sich bei dem verwandten Begriff der »bildungsfernen Schichten«. Hier werden finanziell schwachen Menschen zugleich unterstellt, sie seien dumm. Bei beiden Begriffen geht es darum finanziell ärmeren Menschen generelle Eigenschaften zuzuweisen ohne sie direkt als arme Menschen oder Unterschicht klassifizieren zu müssen. Sozial schwach sind im eigentlichen Sinne des Wortes eher Menschen, denen das Leid anderer völlig egal ist. Denn sozial bedeutet eben nicht grenzenloser Egoismus und Kosten-Nutzen Kalkül, sondern Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit und Altruismus. Der Begriff der bildungsfernen Schichten würde eher zu vielen Politikern und Unternehmern passen, deren Sinn für Realität völlig verzerrt ist und die offensichtlich sämtlicher Bildung fern geblieben sind.

22 Gedanken zu “Neusprech: Sozial schwach und bildungsferne Schichten

  1. Gut gesagt. Haette von mir sein koennen. Kein Witz. Ich aergere mich auch schon seit geraumer Zeit ueber diese daemlichen Begrifflichkeiten wie »sozial schwach« — »bildungsfern« — auf die Spitze getrieben in Saetzen, wie: »die Starken sollen den Schwachen helfen«, die hintergruendig implizieren, dass es diese »Schwachen« gibt, weil sie eben Schwache sind und damit eh »nichts aus ihnen werden kann«. (Und nur solchen »wirklich« Schwachen soll man helfen — alle anderen muss man (nur) »fordern«.

    Eine andere daemliche Floskel ist die vom »Einsteigen um aufzusteigen«. Was dann soviel heisst, wie als Friseurin knapp ueber Hartz IV zu »verdienen« und (sich einbilden zu duerfen) dafuer (auch) von der Gesellschaft (der Ausbeuter) »geachtet« zu werden.

    Ich kann gar nicht soviel fressen wie ich kotzen moechte.

  2. Offen gelebter Sozialdarwinismus — wenn von Starken und Schwachen gesprochen wird, dann ist das kein latenter mehr, sondern ein ungeniert offener. Anders: Offen ausgelebtes Herrenmenschentum, in dem der Sozialdarwinismus die Schwachen »von uns« definiert und der Rassismus »die anderen« allesamt als schwach und minderwertig abtut. Kurzum: Sozialdarwinismus und Rassismus sind ein widerliches Bruderpaar.

    Dabei sind es oft die »sozial Schwachen«, die wahrhaft »sozial stark« sind — andersrum findet sich das ebenso.

  3. Was Bildung ist und was nicht ist schlicht und einfach eine Frage der Definition.
    Es gibt eine Herzensbildung, die man auch sehr oft in der sog. Unterschicht findet. und was ist schon Unter- und Oberschicht,

    nur wer Geld hat und Bücher liest und in die Oper geht muß noch lange nicht wirklich gebildet sein.

    wenn ich nur an manche Angehörige der Oberschicht denke, die sich zum Thema Armut äußern und dabei sprechen wie die Blinden von der Farbe.
    Selbst Betroffenen spreche ich hier wesentlich mehr Kompetenz zu.

    warum wird die Gesellschaft mit der mangelnden Bildung nicht fertig?
    weil größtenteils diejenigen die Begriffe und Maßnahmen definieren (und sich selbstverständlich fürstlich dafür bezahlen lassen), die sich aus den sog.besseren kreisen rekrutieren.

    Ich fordere mehr Toleranz auch dieser Gesellschaftsschichten gegenüber den Ärmeren und angeblich weniger Gebildeten.
    Die sog. Gebildeten und höheren Schichten sollten nicht immer sich selbst zum Maß aller Dinge machen.

  4. Ich stimme euch prinzipiell zu, nur habt ihr einen guten Vorschlag für einen Alternativbegriff? Oder meint ihr man sollte überhaupt nicht mehr von verschiedenen Gesellschaftsschichten sprechen? Aber das trifft den Kern doch auch nicht wirklich, oder?

  5. Es würde schon für Augenrollen sorgen, wenn man diese beiden Begriffe für Politiker, Unternehmer oder Experten gebrauchen würde, die sich einen Dreck um andere, speziell finanziell schwächere Menschen sorgen und womöglich noch sozialdarwinistische Vorschläge oder Phrasen von sich geben.

    Denn das ist »sozial schwach« und völlig »bildungsfern« ;)

  6. Genaugenommen sind auch die Ausdrücke »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« zwecks Irreführung der Bevölkerung auf widerwärtige Weise in ihrer Bedeutung vertauscht. Denn der sogenannte »Arbeitnehmer«, der eigentliche Arbeitgeber, veräußert seine Arbeitskraft an den sogenannten »Arbeitgeber«, den eigentlichen Arbeitnehmer.

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  10. Die Phrase »sozial schwach« verschleiert zudem, die gesellschaftlichen Gründe dafür, arm zu sein, bzw. zu werden. Es entsteht der Eindruck, dass den Betroffenen der Zugang zu den Fleischtöpfen der kapitalistischen Gesellschaft aufgrund des eigenen Unvermögens verwehrt bleibt (»Jeder ist seines Unglücks Schmied«). Die strukturellen Bedingungen ebendieser Gesellschaft und der daraus resultierenden Armut werden ausgeblendet.

  11. Hallo,

    ich möchte gerne ein Buch oder zumindest einen Artikel über die sogenannten »sozial Schwachen« schreiben. Allerdings nicht über die lediglich durch Armut in die typische Gruppe der sozial Schwachen gekommen ist, sondern über die »Oberschicht, ja auch die HighSociaty« die noch mehr sozail schwach sind als die wirklich verdammte »Unterschicht«. Für mich ist der Begriff »sozial Schwach« in seiner einseitigen Definition extrem überholt da die Auswirkung völlig identisch ist, egal welche Schickt, lediglich vorhandenes Geld schließt aus unter diesen Begriff miteingestuft zu werden!

    Über nur interessanten Anstössen an meine E‑Mail freue ich mich

    Meine E‑Mail: g.kigle@web.de

    Susa

  12. sozial schwach, weil auf kosten der allgemeinheit lebend. deshalb u d nichts anderes ist gemeint. sozial stark ist demnach jeder steuerzahler.

    letzlich bleibt es jedoch definitionssache. kann jedernfür sich selbst entscheiden was sich hinterndem missglückten wort verbirgt.

  13. @gino

    Nach dieser Definition sind auch Banken (500 Milliarden Euro Steuergelder-Geschenke) und alle mit vom Steuerzahler subventionierte Unternehmen, Politiker und so weiter »sozial schwach«. Eben alle die von einer Steuergeld-Umverteilung leben. Und das wären beiliebe eben nicht nur ALG2-Empfänger.

    Leider ist es nicht einfach nur Definitionssache, denn die Begriffe werden in Medien, Politik und Wirtschaft mit einer Bedeutung besetzt, wie ich sie oben beschrieben habe. Dadurch beeinflussen sie eben auch das Denken und demnach seien finanziell schwache Menschen automatisch auch »sozial schwach«, oder anders ausgedrückt: asoziale Individuen.

  14. also ich bin »sozial schwach« ,
    und dieser Thread zeigt den »Irrsinn« im Lande auf.
    Ich und meine ganze Umwelt, hat unter »sozial schwache« noch nie etwas anderes verstanden, als Finanziell eingeschränkt, verarmt zu sein.
    Und dieses Land ist übersät mit Möchtegerne, die anderen Menschen ihre persönlichen »Definitionen« Fantasien unterstellen.
    Derartiges Klientel kommt in der Regel aus der Pädagogik und Sozialarbeit, (Kirche) also jener Schicht,
    die aus ihrer inneren Verachtung andere Menschen gegenüber, diese tiefst Wertend beleidigt, und nur »gutes« tun wollen.

    Sie sollten allesamt ihre persönliche Wertung und Unterstellungen heraus lassen.
    Denn die, die hier vom Heil faseln sind jene, die gerade andere Menschen dieser ihrer unterstellten Form werten.
    (ist nicht von ›Karl Marx‹, sondern meiner Erfahrungen)

  15. »Es scheint für bildungsferne Schichten interessanter zu sein, in etwas zu investieren, was sich lohnt«.
    Es scheint mir für die bildungsfernen Schichten — zu denen Hamburgs Wissenschaftssenator Jörg Dräger zweifelsohne gehört — symptomatisch zu sein, nicht zu wissen, was eigentlich die Vokabeln bedeuten von denen sie faseln.
    Selbst Wikipedia weiß: »Investition, auch Geldanlage oder Kapitalanlage, ist in der Betriebswirtschaftslehre und der privaten Finanzplanung die Verwendung finanzieller Mittel oder die Anlage von Vermögen in Kapital bzw. Geldkapital, um damit neue Geldgewinne oder höhere Geldgewinne aus bestehenden Unternehmungen zu bekommen.«
    In diesen bildungsfernen und sozialschwachen Schichten gilt einzig das Prinzip der Profitmaximierung, das in alle Lebensbereiche »hinein regiert«. Man investiert« in Kinder und seine Beziehungen und benutzt so alles und jeden als Objekt.
    Diese Perversion des eigenen Denken und Handelns muss man dem eigenen Selbstbild und zur Aufrechterhaltung der persönlichen Lebenslüge zuliebe den Schichten zuschreiben, die man ausbeutet.

  16. Ich ärgere mich sehr über diese Beschreibung und schreibe mittlerweile sehr oft an Redaktionen damit in den MEDIEN diese Benennung wieder in materiell Arme beschrieben wird. Ich nenne als Beispiel immer den Chef der Deutsche Bank- der ja alles nur als Peanuts empfand- was ich als sozial schwach benenne — das leuchtet Vielen ein. Aber viele reagieren auch damit ‚das sagen ja auch alle .... sehr doof. Also nicht aufgeben!!

  17. was ist denn das für ein blog hier? ein linker hätt ich mir doch gleich denken können. bloß nichts sagen was eventuell andere verletzen könne. das fängt ja bereits mit der integrationsdebatte an und hört bei solch einem thema auf. ohne hass oder ängste schüren zu wollen gibt es sozial schwache oder bildungsferne schichten in deutschland. dieses zu verneinen oder als faschistisch zu titulieren wie das im jargon von linksextremen üblich ist ist lächerlich und mneschenverachtend zu gleich. wer die problme nicht erkennt oder sie sogar verneint wird früher oder später mit der realität in konflikt kommen.

    ganz einfach banal erklärt: vater nur haputschule sohnemann wahrscheinlich auch nur hauptschule ;

  18. @Christian

    Hätte ich mir doch gleich denken können, ein Rechter. Ohne mich wiederholen zu wollen: ja, es gibt sozial schwache und bildungsferne Schichten. Das sind jedoch nicht diejenigen, die Legasthenie haben oder einen Hauptschulabschluss gemacht haben, sondern diejenigen, die eben nicht sozial sind. Menschen, die ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen, ihren Profit mehren, ohne Toleranz, Mitmenschlichkeit und Empathie durchs Leben gehen — sie sind sozial schwache Menschen. Haben ein besonders schwach ausgeprägtes soziales Bewusstsein.

  19. Der Zusammenhang zwischen halbwegs fit im Kopf und kritischem Denken fehlt mir ein bißchen. Mir gings mal recht gut — bis ich zu oft zu kritisch wurde und da kenne ich noch ein paar Leute. Wir sind nun also »sozial schwach« weil wir kritisch waren.
    Kritik = Dummheit?!?
    übrigens der liebe Müntefering. Ein paar Zitate:
    12.Mai 2006: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (mit Bezug auf Hartz IV)
    29.Aug.2006: Es ist unfair, SPD und CDU an Wahlversprechen zu messen
    Und wessen Idee war gleich wieder die Zwangsverrentung für Hartz IV-Empfänger, die am 1.Jan.2008 in Kraft trat?

  20. Pingback: Sozialresistente Schichten |

  21. Wenn es sozial schwach gibt, dann auch sozial stark. Das werden dann die sein die mehr Vermögen besitzen. Aber man weiß, das man mit viel Geld eher zu Egoismus und Ignoranz neigt. Wer ist also in Wirklichkeit sozial schwach?

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