Die Frage ist eine Antwort

In Zeiten der Krise, in der unser Glauben an das kapitalistische System, an Leistungsideologie und Lohnarbeitszwang immer öfter in Frage gestellt wird, suchen viele Menschen nach Auswegen und Lösungen aus dem Dilemma. Es gibt zwar, aus linker Perspektive, wirtschaftspolitische Alternativen und andere Gesellschaftsentwürfe zum Spardiktat der Regierung (Mindestlohn, Einkommensumverteilung, Reichensteuer, bedingungsloses Grundeinkommen, Bankenregulierung usw.), aber ob sich damit die Lebenssituation von Millionen Menschen signifikant verbessert, ist mehr als zweifelhaft.

Letztendlich sind viele, solcher linkspolitischen Vorschläge, aus der Motivation heraus geboren, den letzten Rest des verfaulten Systems irgendwie noch zu retten. Auch wenn diese Massnahmen vorerst wichtige Methoden darstellen, um noch mehr Leid zu verhindern. Was wir dennoch dringend brauchen sind grundsätzliche Fragen.

Kritikern wird oft vorgeworfen, sie sollen konstruktive Kritik üben, Verbesserungsvorschläge bringen, damit man ihre Analysen und Behauptungen ernst nehmen könne. Nur wer selbst einen fertigen Gegenentwurf bzw. Alternativen auf den Tisch legen würde, dürfe die Politik oder das System als ganzes in Frage stellen. Vielleicht sollten wir zunächst wieder lernen, eben nicht Antworten auf Antworten zu liefern, sondern erst einmal wieder Fragen zu stellen?

Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dachwissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit.

- Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, Fischer 2010, Originalausgabe: New York 1944, S. 260

Wir rühmen uns der Presse- und Meinungsfreiheit und diskutieren eigentlich kaum noch. Stattdessen hat jeder eine Meinung, ein Statement oder eine Antwort parat. Politiker fragen nicht, sie sprechen in druckreifen Medienzitaten. PR-Agenturen und Werbetreibende liefern vermeintliche Antworten auf unsere Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen. Sogenannte »Experten« auf allen Fachgebieten und in allen Medien stellen uns ihre Weisheiten zur Verfügung, die wir dankbar annehmen und übernehmen sollen. Unternehmen geben Presseerklärungen ab und reagieren auf Fragen mit vorgefertigtem Marketing-Gewäsch und so weiter. Wir präsentieren und definieren uns zunehmend als fertige Menschen.

Bevor man mit Lösungsansätzen, Alternativen oder wirtschaftspolitischen Gegenentwürfen trumpfen möchte, sollte man sich erst einmal folgende Fragen stellen:

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie sieht mein Menschenbild aus? Auf welchen Normen und Werten sollte eine Gesellschaft aufgebaut sein? Wenn dies Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Solidarität sind, wie garantiere ich die Umsetzung dieser Werte? Was sollte im Mittelpunkt jeglichen politischen und wirtschaftlichen Handelns stehen? Menschen oder Unternehmen? Wie muss eine Gesellschaft aufgebaut sein, wenn der Mensch im Mittelpunkt stehen soll? Wie begrenze ich am besten mächtige Akteure, die nur daran interessiert sind, ihre Partikularinteressen durchzusetzen?

Erst wenn man diese und viele weitere Fragen in einem großen, ehrlichen und transparenten Prozess besprochen und erörtert hat, sollte man beginnen erste und bescheidene Lösungsvorschläge zu formulieren. In diesem Sinne finde ich es eben nicht unbefriedigend, wenn viele linke blogs keine fertig ausgearbeiteten Gegenentwürfe entwickeln und präsentieren, sondern erst einmal Fragen aufwerfen. Fragen, die in den Massenmedien, in Politik und Wirtschaft gar nicht mehr gestellt werden.

7 Gedanken zu “Die Frage ist eine Antwort

  1. Wo ist der Widerspruch zwischen gestellten Fragen und gesuchten Lösungen?
    Eins geht nicht ohne das andere , nur die »verfaulten Reste« retten geht nicht und ist auch nicht das Ziel aller linkspolitischen Vorschläge .
    Nur in Fragen zu verharren geht aber auch nicht , wir werden in sehr kurzer Zeit sehr schnell pragmatische Lösungen suchen müssen , da sich das System in dieser Form in der Tat auf den Abgrund zubewegt.

    Warum sollten kurzfristige Lösungen eine weitergehende Diskussion über die Grundsatzfragen ausschließen ? Vermute sogar , daß beides schon immer zusammengehörte , wenn sich grundsätzliche Änderungen anbahnten.

    Und wie gesagt , den großen Wurf haben wir nicht , gottseidank, was rauskommt , wenn das Feld der Ideologie überlassen wird , wissen wir ja.

  2. @ArtVanderley

    Es gibt keinen Widerspruch. Ich habe auch keine Schwarz-Weiß-Intention, frei nach dem Motto: Fragen gut, Antworten böse. Womöglich habe ich mich missverständlich ausgedrückt.

    Mir geht es darum, dass eben kaum noch gefragt bzw. mal ernsthaft in sich gegangen wird. Ob in Politik, Medien, Unternehmen oder eben auch in einigen linken blogs: scheinbar weiß jeder Bescheid, was zu tun ist, um die Krise zu bewältigen. Nur, falls das überhaupt gelingen sollte, was dann? So weiter wie bisher, bei viel Glück mit ein paar sozialen Reförmchen?

    Und um eben keinen weiteren ‑ismus zu bekommen, ist eine gesamtgesellschaftliche Grundsatzdebatte notwendig. Mir ist durchaus bewusst, dass das womöglich naiv oder romantisch klingen mag, dennoch halte ich es für dringend geboten, über grundsätzliche Gesellschaftsfragen zu sprechen.

  3. Translation des Fragens in eine politische Prexis (Praxis + Hexis). Das Fragen ist zweifellos eine Eigenart des Menschen und seiner grundsätzlichen Explorationsausgesetztheit gegenüber der und in einer Welt. Das Explorieren geht nicht ohne das Fragen. Dem Menschen tritt das wenigste sinnsynchron entgegen. Es fittet nichts. Darum ist alles befragbar oder frag-würdig. Nichtsdestotrotz hat die Antwort die Oberhand gewonnen. Der Experte ist heute einer, der die Antworten weiß noch vor den Fragen. Auf seine Antworten braucht er keine Fragen mehr. Es surft er auf dem Sog zur Eindeutigkeit, zur Prägnanz. Nicht zu einer beliebigen, sondern zu einer bestimmten, nämlich ideologischen Prägnanz. Die Frage wäre ohnehin so gestellt worden, dass die gegebene Antwort die Antwort geworden wäre. Was fragst du da? Das ist die falsche Frage. Frage richtig! Denn dann hast du hier schon die Antwort.
    So scheint es, dass jene, die die ideologieaffinsten Antworten haben und Fragen nachreichen bei Bedarf, alles am besten wissen. Sie hier hat schon die Antwort! Auf fast alles!

  4. »scheinbar weiß jeder Bescheid, was zu tun ist, um die Krise zu bewältigen.«

    Bin mir nicht ganz sicher , was damit gemeint ist. Meine , nur die eine , nämlich meine Lösung ist richtig , das tendiert , wie flavo sagt , zur Ideologie.
    Vorschläge , von denen man selber überzeugt ist , sollten aber nicht abgebürstet werden , wie anders sollte man sie dann formulieren?

    Grundsätzliche Fragen müss(t)en aber gestellt werden ‚stimme zu , sowohl in sozialer als auch — überraschend selten im Gespräch — in ökologischer Hinsicht , schließlich ist die Krise von der ökologischen Frage überhaupt nicht zu trennen , ganz im Gegenteil.

    »Und um eben keinen weiteren –ismus zu bekommen, ist eine gesamtgesellschaftliche Grundsatzdebatte notwendig. Mir ist durchaus bewusst, dass das womöglich naiv oder romantisch klingen mag, dennoch halte ich es für dringend geboten, über grundsätzliche Gesellschaftsfragen zu sprechen.«

    Das ist überhaupt nicht naiv , sondern realistisch , ohne Umsteuern keine Zukunft.
    Hab mal den schönen Satz gelesen :

    « Wer keine Utopien hat , ist kein Realist.«

    Weiß leider nicht mehr , von wem er ist.

  5. Weiß gar nicht was ich sagen soll. Außer, — volle Zustimmung. Die Zeit der Erklärer ist übermächtig geworden. Und sie sind nur noch Pragmatiker. So löst man keine Probleme, — außer die im Tunnel. Und der Tunnel ist nicht mehr sicher.

    Vielleicht, wenn ich es mir erlauben darf, — noch zwei Grundsätze meiner eigenen Motivationen bezüglich Verhältnismäßigkeiten. Damit meine ich speziell auch @Art Vanderley, dessen Kommentare ich sehr schätze.

    Antworten sind bedeutsamer wie Rätsel.
    Denn nur über sie, erfährt der wache Geist sein Können, den Rätseln auf die Schliche zu kommen.

    Fragen sind bedeutsamer als Antworten.
    Denn nur über sie, trainiert der wache Geist sein Können, den Erklärern auf die Schliche zu kommen.

  6. @eb

    Antworten sind bedeutsamer wie Rätsel.
    Denn nur über sie, erfährt der wache Geist sein Können, den Rätseln auf die Schliche zu kommen.

    Fragen sind bedeutsamer als Antworten.
    Denn nur über sie, trainiert der wache Geist sein Können, den Erklärern auf die Schliche zu kommen.

    Gefällt mir! :bier:

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