Versumpftes Narrenland

by epikur

Unsere Gesellschaft, unser Wirtschafts- und Politiksystem sowie die Massenmedien sind auf Mythen und Lügen aufgebaut. Die Lüge ist systemimmanent. Sie ist ein wichtiger und fester Bestandteil, ja das Fundament auf dem sich unser gesellschaftliches Leben aufbaut. Die Lüge in all ihren Wesens- und Erscheinungsformen ist keine Abweichung der Norm Wahrheit, sondern der zentrale Wesenskern unserer täglichen Lebenswelten.

Im alten Testament steht: »Du sollst nicht lügen!«. Unseren Kindern bringen wir bei, ehrlich und aufrichtig zu sein. Bewusst die Unwahrheit zu sagen wird gesellschaftlich und sozial geächtet. Ein eigennütziger Schwindler ist ein unehrenhafter und hinterlistiger Genosse. Jemand, der seine Familie betrügt oder fremd geht, muss mit sozialer Verbannung rechnen. Wer seinen Chef bewusst anlügt, bestiehlt oder betrügt, muss mit Kündigung oder Klage rechnen.

Vorrausgesetzt natürlich man wird entdeckt. Eine Lüge, die nicht offen gelegt bzw. nicht als solche interpretiert wird, bringt häufig persönliche Vorteile. Der persönliche Vorteil, ist, in einer marktradikalen Gesellschaft — in der Konkurrenz und Wettbewerb die maßgebenden Werte sind — für viele eine wichtige und alltäglich wiederkehrende Lebensaufgabe. Insofern sind die Methoden und Techniken zur Verbergung und Kaschierung von Betrügereien immer geschickter und perfider geworden.

In der Politik gehört das systemische Lügen (z.B. die Arbeitslosenzahlen) schon seit langem zum ordentlichen Handwerkszeug. Politiker lügen, um gewählt zu werden, um ein gutes Image zu haben, um Interessenskonflikte zu verschleiern, um Bestechlichkeit, Korruption und um Lobbyismus zu verdecken. Die Lüge, die Verzerrung und die Falschdarstellung gehören quasi schon zum Berufsalltag des Politikers. Wer nicht in der Lage ist, bestimmte Sachverhalte, Entscheidungen, Gesetze und Interessenskonflikte mediengerecht zu präsentieren und dabei Informationen, die einem Nachteile bringen könnten, zu verbergen, der wird sich nicht lange auf der politischen Bühne halten können. Hin und wieder fliegt dann ein Schwindel auf (Zu Guttenberg, Helmut Kohl etc.). Dieser wird dann zu einem Skandal hochgeschrieben, was den Eindruck verhärten soll, es handele sich nur um einen Einzelfall: die große Mehrheit der Politiker sei ehrlich, nur ein paar wenige würden lügen. Der ehrliche Politiker gehört jedoch genauso ins Reich der Fabeln, wie der objektive Journalist.

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Die Massenmedien verzerren, personalisieren, täuschen, verschweigen, kaschieren, konstruieren, verdrehen, werten, übertreiben, inszenieren, verallgemeinern usw. usf. wo sie nur können. Die ermüdende Diskussion, ob dies nun eine bewusste Medien-Propaganda-Agenda oder nur das Ergebnis eines profitorientierten Gewerbes sei, ist hierbei zweitrangig. Wichtig ist, dass sie es tun. Die Suche nach der Wahrheit ist den meisten Journalisten kein Anliegen, auch wenn oft von der Verantwortung der Medien oder der sog. »Vierten Gewalt« gesprochen wird. Man kann also mit Recht behaupten, dass die Massenmedien kein Hort der Wahrheit sind, sondern eher die Lüge in all ihren Erscheinungsformen zu perfektionieren versucht.

Die Wissenschaft galt lange Zeit als Haus der Wahrheit. Seitdem jedoch Unternehmen und Konzerne die Wissenschaft in ihren eisigen Klauen halten, ist sie vielmehr zur Produkt- und Unternehmensforschung degradiert. Die Geisteswissenschaften werden gegenüber den Naturwissenschaften finanziell stark benachteiligt: Lehrkräfte werden gestrichen und Institute geschlossen. Die Wissenschaft ist in weiten Teilen den Konzernen hörig geworden. Medizin- und Pharma-Institute produzieren Studien, Forschungen und Statistiken, die den Pharmakonzernen dienen, die Ingenieurwissenschaften forschen für Militär und Automobilindustrie usw. Bei all dem bleibt es natürlich nicht aus, dass systematisch gelogen wird. Immer dort, wo es den Interessen der Geldgebern nicht dienlich ist, werden Forschungsergebnisse verzerrt, zurecht gebogen oder verschwiegen.

Mein armer Sohn. Trau Deinen Augen nicht. Was immer sie dir zeigen, es ist nur Begrenztheit. Trau deinem Verstand, hebe ins Bewusstsein, was in dir ist, und du wirst wissen und fliegen.

- Richard Bach, »Die Möwe Jonathan«, Ullstein Verlag, S. 79

In der Arbeitswelt gehört die Lüge zum alltäglichen Revierkampf. Um sich als Arbeitskraft besser verkaufen zu können, wird im Lebenslauf und im Bewerbungsgespräch gelogen. Die Werbung in all ihren Formen, ist ein Reich von haltlosen Behauptungen, Träumereien, Verdrehungen, Überspitzungen und dreisten Schwindeleien. Die aufgesetzte Freundlichkeit von Verkäufern ist Bestandteil des Geschäftes und eher selten das Ergebnis einer ehrlichen sozialen Interaktion. PR und Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen übertreiben und überhöhen in der Regel immer die eigene Perspektive. Ehrliche und selbstkritische Unternehmen dürften eine eher seltene Erscheinung sein. Um eine positive Bilanz vorweisen und um einen ordentlichen Reibach machen zu können, wird gelogen, betrogen und bestochen, wo es möglich ist und nicht sofort auffällt.

In der Uni, in den Massenmedien, in Büchern oder bei Reden von Politikern oder Wirtschaftsvertretern wird man nicht müde, zu behaupten, wir seien eine Wertegesellschaft. Eine vorzeigbare Demokratie, die von den Menschenrechten getragen wird, so heißt es dann. Bürger- und Menschenrechte jedoch, werden schnell zur Verhandlungsmasse wenn es um Profite und Geschäfte geht. Auch die Lüge in all ihren Erscheinungsformen — in fast allen Religionen und Weltanschauungen geächtet und gleichzeitig kultiviert — gehört schon lange zu unseren täglichen Lebenswelten.

7 Gedanken zu “Versumpftes Narrenland

  1. ..und da heute Sonntag ist könnte man noch ein gepflegtes »Amen« hinten anfügen...danke für die Predigt. ;-)

    Genau dies ist der Grund warum wir uns nicht vom Kapitalismus lösen können. Wir haben ihn soweit in unserem Denken und Tun verinnerlicht, dass alles andere alternativlos wird. Was würde uns z.B. eine hypothetische marxistische »Wende« des Systems bringen, wenn darin diejenigen die mit Lug und Betrug zur Macht streben sich wieder durchsetzen würden? Das Resultat wäre schlicht so etwas wie DDR 2.0. Die Finanz‑, Medien- und Wirtschaftsbosse würden ersetzt durch irgendwelche Parteibonzen...

    Meine Einschätzung: der Weg in eine wirklich freie, gleiche und solidarische Gesellschaft ist noch sehr sehr weit und kann erst starten, wenn die jetzigen Strukturen in Schutt und Asche liegen. Ich befürchte jedoch dies wird erst der Fall sein wenn die Lebensbedingungen vernichtet und die Ressourcen geplündert sind.

    Das Projekt der Evolution:
    »Lasst uns Primaten mit Intellekt ausrüsten«
    scheint zum Scheitern verurteilt.

  2. Ein Rundumschlag auf allen Lebensgebieten, in denen gelogen und betrogen wird. Dem möchte ich nur noch den Tenor aus Max Frischs Drama, Andorra, hinzufügen: »Einmal werd ich die Wahrheit sagen — das meint man, aber die Lüge ist wie ein Egel, sie hat die Wahrheit ausgesaugt.

    Andorra ist überall !

  3. Eine Welt voller Verkäufer. Wovon merkwürdigerweise viele eindeutige Aussagen erwarten. Und wenn das dann so eindeutige Aussagen sind, — wie im obigen blog, — dann ist es zumindest bei diesen Leuten, nicht das, was man erwartet hat ;-) Aber seht es nicht so schwarz. Beim endgültigen Nebel am Ende, darf man grau erwarten. Die Farbgebung des Sumpfes, in welchem man im Inneren dann mangels Sicht hinein fällt, bleibt der Fantasie überlassen. (@epikur, — Tschuldigung, — bin ein wenig neugierig. Fängst du auch an, in Bildern zu denken?)

  4. Das Problem ist nicht der Sender, sondern der Empfänger.
    Wenn wir einmal postulieren, daß es keine Lügen gibt, dann ist der Empfänger für die Interpretation der empfangenen Information verantwortlich. Wir lassen zu, daß wir uns selbst belügen. Ganz einfach, weil wir alle belogen werden wollen. Wir als Menschen wollen die Wahrheit gar nicht wahrnehmen. Zum einen ist Wahrheit erkennen wirkliche intellektuelle Arbeit. Und zum anderen können wir durch die Wahrheit in unserem Selbstbild verletzt werden. Beides ist verbunden mit Schmerzen.
    Und wenn wir dann noch davon ausgehen, daß wir ein Urbedürfnis nach Dazugehörigkeit haben, so sollte jedem klar sein, daß wir eine Gesellschaft, die ausschließlich auf Wahrheit aufgebaut ist, gar nicht aushalten können — wir würden schlicht und einfach wahnsinnig (manchmal glaube ich, daß wir das schon sind).
    Arbeitsverweigerung und Selbstbilderhaltung sind die eigentlichen Ursachen für Unwahrheit. Wir sind zu faul, selbst zu denken und haben Angst vor dem, was andere über uns denken könnten.

  5. irgendwelche moralgesetze oder begrifflichkeiten wie anstand, ehre, aufrichtigkeit etc oder auch zb die 10 gebote der bibel galten immer nur für die breite masse. die »oberschicht« fühlte sich solchen werten oder geboten nie verbunden bzw hielt sie niemals für gültig, wenn sie auf die eigene kaste angewendet werden sollten. und heutzutage: ist der ruf erst ruiniert, ....
    die »lumpenelite« kennt da keinerlei scham mehr.

  6. @ gerhardq: nein, es ist nicht der Empfänger die Drehscheibe der Lüge. Wo kämen wir da hin. Aber es ist dies das passende Erklärungsmodell für die Gegenwart: es braucht Modelle, die in den methodololgischen Individualismus integierbar sind. Welterschließung kennt heute fast nur dieses Pfad. Alles andere wirkt auf Zeitgenossen perplex, es fehlen die Verarbeitungsschemata. Es ist wie bei einer nicht beherrschten Fremdsprache: sie ist nur eine Lautfolge, man hört keine Wörter und versteht keine Bedeutung. Zweifellos materialisiert sich die Lüge in entsprechende individuelle Konfigurationen. Und es ist wahrlich viel Verleugnung im Spiel als Abwehrform des Unerträglichen. Aber dennoch nein, die Lüge hat strukurelle transindividuelle Dimensionen. Sie hat sich im öffentlichen Diskurs eingenistet und mitunter besteht dieser nur mehr aus Lüge. Da kann das Individuum noch so aufklärungsbegehrend sein, es wird daran abprallen und jener wird sich ungehindert fortlügen. Gut, es gibt nur Individuuen, an denen Neues beginnen kann. An einem Baum geht das nicht und auch nicht an einem Hund. Aber der Mensch ist nicht nur er selbst.

  7. @gerhardq

    Die Lüge nur auf den »Empfänger« zu reduzieren, halte ich für sehr einseitig. Mit Lügen machen die »Sender« eben auch eine Menge Kohle, schlagen Vorteile für sich heraus und konstruieren sich ihre eigene Welt, wie es gerade am besten passt.

    Und wer heute offen denkt, aufklärt, kritisiert und hinterfragt, dürfte in gut 80–90 Prozent aller sozialen Gruppen schief angeguckt werden. Dann bist Du ganz schnell ein Klugscheißer, ein Besserwisser, ein Miesmacher usw. usf. Es ist also richtig, wir wollen belogen werden — wir wollen aber auch niemanden in unserer Nähe, der uns auf die Lügen aufmerksam macht (oder auf irgendetwas anderes, was nicht in unseren Horizont passt).

    @eb

    Ich denke immer öfters in Bildern, ja.

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