Das lebendig-sein abtrainieren

Als ich letztens in der Berliner U‑Bahn unterwegs war, beobachtete ich, wie eine Mutter ihr Kind zur Ruhe und zum stillsitzen ermahnte. Da kam mir der Gedanke, dass dies nur einer von vielen Vorgängen ist, wo Kinder zum angepasst-sein erzogen werden. Ihr lebendig-sein wird systematisch abtrainiert. Sie sollen später schließlich Lohnarbeiter werden, die funktionieren und nicht »träumen« oder ihren Wünschen nachhängen sollen. Dabei ist doch das Problem nicht, dass Menschen keine Lohnarbeit haben, sondern dass viele Menschen nicht wissen, was sie ohne Lohnarbeit mit ihrem Leben anfangen sollen. Die Lohnarbeit zählt insofern als Alibi dafür, dass man nicht leben könne, wie man es gerne wollte. Wenn das lebendig-sein seit frühester Kindheit an, abtrainiert worden ist, sind wir dann überhaupt noch in der Lage wahrhaftig zu leben?

10 Gedanken zu “Das lebendig-sein abtrainieren

  1. Zu dem Thema passend, habe ich einen interessanten Artikel gefunden:
    http://www.birkenbihl.de/PDF/gatto.pdf

    Ich habe eine ganze Zeit in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Viele Menschen dort definieren sich und andere ausschließlich über Erwerbsarbeit. Ihnen fehlt die Fähigkeit, selbständig zu denken und zu entscheiden. Diese Menschen haben konsumiert, eine Familie gegründet, Kinder bekommen, ein Haus gebaut und sind trotzdem hilflos, wenn ihr Job wegfällt. Sie können das tun, was andere von ihnen verlangen (wollen geführt werden), können aber für sich selbst keine Entscheidungen treffen.

    Wir erziehen unsere Kinder zu solchen Zombies und haben noch nicht einmal ein schlechtes Gefühl dabei. Und wenn unsere Kinder sich langweilen und den Unterricht stören, dann wird eine neue Krankheit erfunden und die Kinder mit Ritalin ruhig gestellt. In der Universität und Berufsausbildung werden die jungen Leute weiter in ein Schema gepreßt, so lange bis sie sich keine andere Welt mehr vorstellen können — Anpassung zur Normalität wird.

  2. Da scheint mir die Nachdenklichkeit doch in die Bedenklichkeit abzurutschen!
    Natürlich ist die Lohnarbeit nicht das Problem. Sondern erst mal die Mittellosigkeit der »Frei»gesetzten und einer verordneten Armut Unterworfenen.
    Wenn andererseits die durch lebenslange Lohnarbeit Verkrüppelten nichts mit sich anzufangen wissen, muß man nicht die Folgen der Deformation zum Problem erheben, sondern ihre Genese thematisieren.
    Sonst kommt es noch so weit, daß die Arbeitsplatzbesitzer sich bedanken müssen für ihr frühzeitiges Eingebrochenwerden für den Arbeitsprozess und die Sinnerfüllung, die sie darin erfahren dürfen.

  3. @Christian Klotz

    Da hast Du vollkommen recht.

    Ich schätze, die Passage: dabei ist doch das Problem nicht, dass Menschen keine Lohnarbeit haben, sondern dass viele Menschen nicht wissen, was sie ohne Lohnarbeit mit ihrem Leben anfangen sollen kann leicht im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und einer Verwurstungs-Rechtfertigung dienen. So ist sie aber nicht gemeint. Ganz im Gegenteil! Ich wollte damit anstoßen, dass die Selbst-Definition über die Lohnarbeit, letztlich eher selten zum selbst führt.

  4. Ich stimme Euch völlig zu, was die Kritik an der Gesellschaft angeht. Aber vielleicht dramatisiert Ihr den Vorfall in der Bahn jetzt. Einige Mütter möchten ihre Kinder lehren, dass man sich in der Öffentlichkeit nicht krawallartig aufführen soll, einfach aus Rücksicht auf andere Leute. Wer das als Kind nicht lernt, wird später schmerzliche Erfahrungen machen.

  5. zu marlies: ja ein gewisses maß an rücksichtnahme anderen gegenüber schadet niemandem — ist sogar dringend geboten. rücksichtslosigkeit beinhaltet auch ein gewisses maß an dummheit, weil auch der rücksichtslose irgendwann einmal die rücksichtslosigkeit anderer erleiden wird.
    gerhardq: stimmt — aber zombies können nur zombies erziehen und 10 bis 20 jahre schule reichen, um den menschen das denken abzugewöhnen.

  6. Das Verquere an der Leistungsgesellschaft ist meiner Meinung nach auch wie mit den Auswirkungen von Leistungsdruck und dem Nichtwollen des selbständigen Denkens und Fühlens, umgegangen wird.
    Auf der einen Seite sind Depressionen oder Burn-Out immer noch in gewisser Weise Tabuthemen, für die zumindest niemand (außer dem unzulänglichen Individuum) Verantwortung übernehmen möchte. Die Familie oder das Soziale Umfeld als wichtige Stütze im Leben wird nicht (mehr) anerkannt, wird allenfalls als Hindernis wahrgenommen gegen Flexibilität und Leistungsstärke. Auf der anderen Seite haben wir eine Überdiagnostizierung, soll heißen eine hippeliges Kinds hat gleich ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und »braucht« Tabletten und wenn mich mal das Wetter betrübt, habe ich gleich Depressionen.
    Dieser Widerspruch schweigt die Problematik der psychischen und dann auch physischen Auswirkungen der Leistungsgesellschaft tot und spielt es gleichzeitig herunter. Und das Schlimme ist, das ist gewollt.
    Als glorreiches Beispiel dafür sind für mich sog. Assessment-Center, bei denen angeblich nur das Leistungspotenzial eines zukünftigen Arbeitnehmers getestet werden soll. So geht es heutzutage doch auch darum selbstbewusstseinsschwache Individuen herauszufiltern, welche nicht Nein! sagen können und somit leichter steuer‑, ausbeutbar sind. Solche Menschen enden dann auch meist mit den og. Störungen, weil es niemals genug sein wird, was sie tun.
    Und wer ist Schuld? Nur die Gesellschaft? Mir persönlich reicht das nicht. Verantwortung trägt AUCH letztendlich jeder, der nach 18:00Uhr noch einkaufen geht; letztendlich jeder der von seinem »Bediener« bedingungslose Hingabe fordert; letztendlich jeder, der auch einem Unternehmensleiter keine Fehler zugesteht; letztendlich jeder, der Leistungen fordert, die er selber doch als unmenschlich/nicht zumutbar verurteilt.
    Sicher kann das Verhalten eines Einzelnen kein Burn-Out Syndrom bei einem anderen verhindern. Ich möchte nur zu bedenken geben, was jeder Einzelne oft gewohnheitsmäßig fordert (wie das ein Kind doch bitte ruhig sein soll, weil man sowieso schon Kopfweh hat) und was man kritisiert (das Kinder zu Zombies erzogen werden) MANCHMAL sehr deckungsgleich sind. Und das kann der Einzelne wohl für sich vermeiden.

  7. Funny, ich habe heute genau dasselbe gedacht.

    Schreibe momentan Bewerbungen für Praktika in nächsten Jahr. Wie man sich da selber »verkaufen« muss, widerlich.

    Ich preise mich selbst wie eine Ware an, ich bin in den Augen meiner Arbeitnehmer nur ein Werkzeug, das eine gewisse Leistung zu erbringen hat.
    Falls ich den oftmals idiotischen Anforderungen der Firmen nicht entspreche, werde ich ignoriert.

    Die Aussicht später irgendwoe angestellt zu sein, meine Energie,Kraft und Leistung in den Dienst einer Firma zu stellen, desse einziges Ziel oftmals nur der Profit ist. Schrecklich, daraus sind Alpträume gestrickt.

    Menschsein gibt es nicht mehr, man wird nur noch danach beeurteilt, wie gut man seine Rolle als Werzeug, als Zahnrad in der Gesellschaftsmaschine ausfüllt.

  8. @Sephi:

    Der Begriff Burn-Out ist nicht im gleichen Maße tabuisiert wie der einer »gewöhnlichen« Depression, er existiert genau wegen der möglichen Stigmatisierung als depressiv.

    Burn-Out-Syndrom ist ein Euphemismus für eine in der Symptomatik jeder »anderen« Depression gleichgestellten Erkrankung. Möglicherweise war Überlastung der Auslöser für diese aber die Ursache unterscheidet sich nicht von anderen Depressionen. Ich vermute die Notwendigkeit für diesen Euphemismus liegt allein darin begründet, dass in unserer leistungorientierten Gesellschaft »Überarbeitung« als Ursache für den eigenen Ausfall eher akzeptiert wird als eine seelische Erkrankung.

  9. Pingback: Familie im Fokus

  10. Man kann nur erinen Teil auf die Erziehung zrückführen.
    Irgendwann bedinnt die Selbsterziehung, die Erkenntnis, Versäumnisse nicht als Grund für ein Versagen zu rechtfertigen.
    Die Menschen selbst haben sich die letzten 30 Jahre zu dem gemacht, was sie heute sind, sie haben zugelassen, dass man das mit ihnen gemacht hat.Sie selbst haben die Mächte gestärkt, die ihnen heute das leben einschränken und sie zu reinem Werkzeug machen. Sie haben nicht mitgedacht. Auf jede Propaganda fielen sie herein.
    Andererseits war doch eine große Masse träge, es zählte nur die Arbeit, Sie intessierte weder die Politik noch die Sinnfrage des lebens. Wer den Sinn des lebens ausschließlich in der Arbeit sieht, der muß scheitern, spätestens im Alter steht er vor dem geistigen Nichts.
    Schauen wir uns doch die Verdummung an. Jetzt wo das große Geld scheffeln schwierig wird, bricht die Welt zusammen. Andere Inhalte gibt es nicht. Was sollen sie tun? Sie wissen nichts mit sich anzufangen.
    Jeder muß selbst an sich arbeiten, sein Leben gestalten, sein leben erfüllen. Niemand kann das für den einzelnen tun.
    Das Kinder drunter leiden ist die logische Konsequenz. Es wird wieder ein Generation — ca 20 jahre — die zeit der schulbildung und Erziehung—dauern, bis sich das wieder ändert.
    nur die Zeit- die Umstände werden den menschen dazu zwingen. Wir sind alle Wohlstangsverbogen und verzogen..das wurde an die jetzige Jugend weitergegeben..
    Ritalin ist die Droge der Zeit, sich es bequem zu machen, die Kinder ruhig zu stellen, auch dafür wird das Ergebnis präsentiert werden. Es istr ein verbrechen am Kind. lebendigkeit unterdrückt man nicht, man lenkt sie in sinnvolle Aktivitäten. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Veränderung.

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