Zwangsharmonie

Der Biedermeier-Zeitgeist, der sich von allem zurückzieht, was nicht unmittelbar das eigene Leben betrifft, ist wieder schwer angesagt. Häufig ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich selbst vermeintlich Alternative, Linksgrüne und Progressive in den heimeligen Spießer-Familien-Bunker verkriechen. Und dort hat Frieden zu herrschen! Bei Familenfeiern. Im Urlaub. Auf Fotos. Der krampfhafte Versuch, der sozialen Außenwirkung zu dienen, endet fast immer in bigotter Selbst-Heuchelei. Man wird so, wie man nie sein wollte.

Selbst wenn die ganze Welt unter brennender Lava verglühen sollte, solange man selbst auf einem kühlen Stein sitzt, kann und darf alles Lebendige elendig verrecken. Wer auf diesen weitverbreiteten, menschenverachtenden Habitus hinweist, gilt als unangenehm und anstrengend. Als Pessimist, Schwarzseher und Nörgler. Es herrschen verordnete Zwangsharmonie und devoter Zwangsoptimismus: »Uns geht es doch gut!«

3 Gedanken zu “Zwangsharmonie

  1. Dabei wird vergessen, dass eine Beziehung hierzulande ein permanenter, auf Dominanz basierender Machtkampf ist (der verbal, psychisch und oft auch physisch ausgetragen wird — jeden Tag aufs Neue) . Mit Liebe hat das nicht viel zu tun. Daher ist die Entwicklung auch nur konsequent.

  2. Interessant, wie der Mensch aus unterschiedlichen Perspektiven seine Umwelt wahrnimmt.

    Ich nehme Menschen dann doch mehr wie gehetztes Wild wahr, ständig auf der Flucht vor sich selbst. In unendlichen Schlangen in ihrem Mobil unterwegs, um eigentlich wohin zu kommen? Um in den Schlangen der Supermärkte menschlichen Kontakt zu haben?

    Das kann es ja eigentlich nicht sein, um sich dann in »Deinen heimiligen Spiesser-Familien-Bunker« zurückzuziehen. Vielleicht hast Du sogar Recht und ihre Bedürfnisse sind inzwischen soweit reduziert, dass menschliche Kontakte virtuell ersetzt werden.

    Ich habe da allerdings eine eigene Vorstellung von dieser »innerlichen Verelendung«. Nachdem die modernen Gesellschaften alles göttliche aus dem Bewusstsein des Menschen endgültig vertrieben haben und dieses auch nicht wieder zurückzuholen ist, da tritt als Ersatz eben nur dieses fragmentierte, in immer wieder neuen, in seine kleinsten Teile zerlegte Bild vom Menschen als fortschrittliches Menschenbild hinzu.
    Ich finde es überhaupt erstaunlich, wie ruhig sich der westliche Mensch in diesem ganzen monströsen Desaster, das ihm täglich , sei es auf seiner Erde oder ausserhlb davon täglich mit grosser Inbrunst aufgebürdet wird noch zurecht findet.

  3. Die Zwangsharmonie zeigt sich auch in der fehlenden Bereitschaft Differenzen und Meinungsverschiedenheiten auszutragen und auszuhalten. Sie einfach mal so stehen zu lassen! Ohne Wenn und Aber!

    Der Podcast »Streitkultur« vom Deutschlandfunk ist so ein Beispiel hierfür. Die Idee zwei Gäste einzuladen und jeweils das Pro und Kontra zu erötern, ist super. Nur muss am Ende der Sendung natürlich für Harmonie gesorgt werden, in dem die Moderatorin verzweifelt bemüht ist, Brücken zwischen beiden Meinungen zu schlagen und einen Kompromiss zu formulieren. Mörks! :nene:

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