Politikverdrossenheit oder neue deutsche Gemütlichkeit? Originalfoto: sijole / photocase.com
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Über das Phänomen der sog. »Politikverdrossenheit« wird in Deutschland seit langem heiß debattiert. Dabei bezeichnet der Begriff eine Fülle von Sachverhalten. Zum einen die ablehnende, negative Haltung und Einstellung gegenüber der Politik sowie gegenüber politischen Akteuren. Zum anderen aber auch das zunehmende Desinteresse an politischen Sachfragen oder der Politik im allgemeinen. Ein Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Parteien und gegenüber dem System der Demokratie insgesamt, sind häufig damit verbunden. Nur woher resultiert dieses Desinteresse an der Politik? Meine These ist, dass der Begriff der »Politikverdrossenheit« unzureichend ist und nur einen Teilaspekt beschreibt - die neue deutsche Gemütlichkeit, sprich den zunehmenden Egoismus der Menschen jedoch außer acht lässt.


Demonstranten blockieren die Schienen
des Castor-Transportes

In der Politikwissenschaft wird oft versucht diese subjektive Einstellung der Menschen durch vermeintlich objektive Zahlen zu erklären, wie z.B. einer zunehmend fallenden Parteienbindung von spezifischen Milieus, sinkenden Parteimitgliedern insgesamt sowie der schlechten Reputation und Wahrnehmung von politischen Akteuren. Nur selten wird an das Problem sozialpsychologisch herangegangen. Vermutlich deshalb, weil man die Ergebnisse einer solchen Untersuchung gar nicht erst wissen möchte, da diese zwangsläufig die Forderung nach einer Veränderung des politischen Systems zur Folge hätte. Mehr direkte Demokratie sowie mehr Volksentscheide bei wirklich wichtigen Fragen wären dann mögliche Vorschläge, um der »Politikverdrossenheit« zu begegnen. Da auf der einen Seite zwar oft über das Thema bei Talkshows und Rederunden debattiert wird, auf der anderen Seite aber Gesetze, Vorschläge und Ideen für größere Partizipationsmöglichkeiten der Bürger systematisch von einem Großteil aller Parteien abgelehnt wird, geben sich Politikverdrossenheit und Volksverdrossenheit die Hand. Auch die Umverteilungspolitik zugunsten einer kleinen vermögenden Minderheit, die seit der rot-grünen Ära knallhart gegen die Interessen des Volkes durchgesetzt wurde und wird, unterstreicht eine zunehmende Entfremdung von Politik und Volk.

Kleinbürgerlicher Egoismus
»Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt«
- Erich Fried


Bis heute gibt es weltweite Proteste
für die Freilassung Mumia Abu-Jamals

»Die da oben machen eh was sie wollen« oder »Ich kann doch eh nix dran ändern« – diese Sätze hat jeder politikinteressierte Mensch schon mehr als einmal gehört. Wenn es um politische Themen geht, so signalisieren diese Sätze: »Lass mich bloß damit in Frieden. Es interessiert mich nicht«. Ob dies ein alleiniges Zeichen von »Politikverdrossenheit«, im Sinne eines Misstrauens gegenüber politischen Akteuren und Themen ist oder einfach die Fügung ins Schicksal, wage ich allerdings zu bezweifeln. In diesem Zusammenhang ist der Begriff nicht nur unzureichend, sondern verschleiert die »deutsche Bequemlichkeit« oder genauer: den Egoismus einer kleinbürgerlichen Einstellung - »Hauptsache mir geht es gut, soll der Rest der Welt doch verbrennen«, um es salopp auszudrücken. Insofern macht es Sinn, neben den objektiven Fakten, die Mentalität und die Einstellung vieler Deutscher gegenüber der Politik näher zu betrachten, um dem Phänomen der zunehmenden »Politikverdrossenheit« in Deutschland zu Leibe zu rücken. In der Wissenschaft wird hierbei oft von der sog. »Untertanenkultur« Deutschlands gesprochen. Im Gegensatz zur Schweiz, Frankreich oder auch den USA sind die Menschen in Deutschland wenig an Politik und Partizipation interessiert, sondern eher »gemütliche Befehlsempfänger« als aktive Gestalter. Die These, dass es einen so ausgeprägten Nationalsozialismus, nur in Deutschland hätte geben können, betont die deutsche Mentalität einer »Untertanenkultur«.

Der Ausspruch von Kant, Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist im Medienzeitalter oftmals zudem zur bloßen Farce verkommen. Kampagnenjournalismus, tendenziöse Berichterstattungen sowie Agenda Setting der Medien ersetzen oftmals den Gebrauch des eigenen Verstandes. Dabei liegt es gerade in der Verantwortung des Einzelnen sich dieser (oftmals fast schon offensichtlichen) interessensgesteuerten Medienberichterstattung, wie z.B. bei der BILD–Zeitung oder auch beim Spiegel, zu entziehen und sich umfassend zu informieren. Aber auch hier hält die deutsche Bequemlichkeit häufig Einzug. Ein weiteres Merkmal, welches die »Politikverdrossenheit« häufig nur als einen kleinbürgerlichen Egoismus kennzeichnet, ist die Forderung bei aktiver politischer Beteiligung (z.B. wählen gehen) müsse sich ja auch »für mich etwas ändern«. Wenn dies nicht der Fall ist, sei die Wahl ja sinnlos, wird oft argumentiert. Hier enttarnt sich die angebliche »Politikverdrossenheit« als Enttäuschung über eine nicht erfüllte egoistische Erwartungshaltung. Vielmehr stellt sich die Vermutung auf, dass die Aufrechterhaltung des Status Quo, sich als interessanter und angenehmer erweist, als die Dinge in Frage zu stellen. Das Motzen über die herrschenden Zustände ist in diesem Sinne dann nur der Tribut an die deutsche »Motz-Mentalität«. Denn erst die Passivität und die fatalistische Einstellung des »ist eben so«, ermöglicht erst unmenschliche Zustände und Strukturen.

Jeder kann etwas bewirken
»Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte gehen, können das Gesicht der Welt verändern«
- afrikanisches Sprichwort

Zunächst einmal ist die weitverbreitete Auffassung, der Einzelne könne ja doch nichts bewirken vermutlich ein Zeichen von Ohnmacht, Resignation, Faulheit, Bequemlichkeit und/oder auch einfach von Desinteresse. Dabei ist Politik, sind politische Themen, nicht einfach nur ein abstraktes Wissensgebiet, welches für Fachidioten vorgesehen ist, sondern Politik bezeichnet den Willen und das Interesse an der Gestaltung und Verbesserung der Welt aktiv teilhaben zu wollen. Und zwar nicht irgendeiner Welt »da draußen«, sondern der Welt und der Gesellschaft in der wir täglich leben. Denn viele politische Entscheidungen betreffen das Alltagsleben der Menschen ganz direkt, auch wenn es oft erst auf den zweiten Blick ersichtlich wird. Insofern will ich der weitverbreiteten Auffassung, man könne die Politik bzw. das Interesse an politischen Themen »den anderen« einfach überlassen, entschieden widersprechen. Denn dann entscheiden andere und zwar in ihrem Sinne und in ihrem Interesse über das eigene Leben. Arnold Toynbee bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: »Die größte Strafe für alle, die sich nicht für Politik interessieren, ist, dass sie von Leuten regiert werden, die sich für Politik interessieren«. Dabei geht es nicht allein darum, konkrete politische Entscheidungen als Individuum verändern oder beeinflussen zu können, sondern zunächst einmal ist es notwendig, die eigene Wahrnehmung und das Verständnis konkreter politischer Entscheidungen und Sachverhalte zu schärfen. Diese Art der Aufklärung und der Erziehung zu einem mündigen Bürger, befreit das Individuum von den selbstauferlegten Fesseln, ein blind konsumierender Mensch und Befehlsempfänger zu sein, welcher sich der vorherrschenden sozioökonomischen (Macht-)Struktur kampflos ergeben hat.


»Eine andere Welt ist möglich«

Abgesehen davon, ist politisches Engagement auch durchaus von Erfolg gekrönt, wie die frz. Revolution, die 68er-Generation und der Mauerfall zeigen. Ausdauer, Geduld und eine nicht zu hohe Erwartungshaltung in Bezug auf die Wirkung sollten jedoch vorhanden sein, um keinen Frust zu ernten. Die Möglichkeiten sich politisch zu engagieren sind heutzutage sehr vielfältig. Neben dem Eintritt in eine Partei, welches meist nur im endlosen Pöstchen-Geschacher, Fraktionszwang und Parteisoldatentum endet, gibt es unzählige Organisationen und Bürgerrechtsbewegungen in Deutschland. Ob Amnesty International, Greenpeace, Attac oder antifaschistische, antimilitaristische Gruppen, um nur einige zu nennen, die Möglichkeiten sind zweifellos vorhanden. Wenn in der Geschichte der Menschheit, jeder nur die Einstellung: »bringt doch eh nix« gehabt hätte, würden wir heute wahrscheinlich noch immer mittelalterliche Zustände haben. Und nur Fatalisten sind der Meinung, wir seien heute am Ende der Geschichte angelangt.

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