Die binäre Wahrnehmung

binär_titelLike oder Nicht-Like. Daumen rauf. Daumen runter. Schwarz oder weiß. Gut oder böse. NATO oder Putin. Hype oder Shitstorm. Fleischfresser oder Veganer. Es gibt zwar US-Serien, die differenzierte Darstellungen von Themen und Charakteren zeigen, aber im politischen und sozialen Diskurs herrscht in aller Regel die eindimensionale Polarisierung vor. Es werden simplifizierende Weltbilder und vorurteilsbehaftete Erklärungsmuster geliefert. Narrative, die moralisch-emotionale Deutungskriterien bedienen, sachliche Argumente verabscheuen und tiefergehende Analysen ablehnen. Wissenschaftliche und akademische Herangehensweisen erzeugen im Aufmerksamkeitswettbewerb zu wenig Klicks, Reichweite und Quote. Die binären Erklärungsmuster entspringen einem absurden ökonomischen Zahlenfetischismus, der alles und jeden messen, zählen und statistisch verarbeiten will.

Immer schön die Klappe halten!

klappe_titelNie die Wahrheit sagen oder das ausdrücken, was einen wirklich bewegt oder was man denkt! Es könnte Chefs, Familienmitglieder, Lehrer oder Menschen mit mehr Macht- und Einflussmöglichkeiten verärgern und so eigennützige Vorteile obsolet machen bzw. echte Nachteile mit sich bringen. Akzeptiere die vermeintliche Notlüge als strukturelle Alltags-Normalität. Authentizität, Aufrichtigkeit und Anstand bringen Dir selten eigennützige Vorteile. Mache stets eine gute Miene zum bösen Spiel. Sei falsch, berechnend und bigott. Stoße niemanden vor den Kopf!

Solltest Du eine grobe Ungerechtigkeit an Deinen Mitmenschen erleben, mische Dich nicht ein! Es geht Dich nichts an und bringt Dir nur Ärger ein. Denke nur an Dich und wie die Anderen Dich beurteilen. Bleibe stets zuversichtlich und glaube an »vom Tellerwäscher zum Millionär«! Selbst wenn Sie Dich mobben, verachten, schlecht bezahlen oder erniedrigen: Wehre Dich nicht! Mache Dir eine Sklavenmoral zu eigen! Sei vorauseilend gehorsam, halte den Mund, schau weg und mach stets nur das, was man Dir sagt!

Sie reden von Demokratie, aber leben den Feudalismus. Wir sind eine Nation von Schissern und Duckmäusern. Wo ist der Mut geblieben?

Das Warum abtrainieren

warum_titelGehe ich in die örtliche Bibliothek zu den Bereichen Soziologie, Psychologie, Philosophie und/oder Politikwissenschaft, so gibt es dort heute primär Lebensratgeber-Bücher, Biografien, Pop-Kultur, emotionale Stellungnahmen, polemische Streitschriften und Trend-Literatur. Schriftliche Werke, die dabei helfen könnten, das große Ganze zu verstehen, Sachverhalte präzise, wissenschaftlich und analytisch zu hinterfragen sowie Strukturen, Verstrickungen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sind in öffentlichen Bibliotheken immer seltener, werden in der Schule erst gar nicht und in der Universität ‑wenn überhaupt- nur als »Bulimie-Wissen« gelehrt.

»Bislang hat es noch keine Bevölkerung gegeben, die für ihre Reise in die eigene Unfreiheit auch noch bezahlt hat.«

Harald Welzer. »Die höchste Stufe der Zensur: Das Leben in der Ich-Blase«. Blätter. Ausgabe Juli 2016. S. 62

Die innere Selbstzensur und das absolute Desinteresse an allem, was größer und komplexer ist, als das eigene Lebensumfeld, benötigt keinen Fürsten oder Diktator. Wenn die Massen ihre Lohnknechtschaft für Freiheit halten, den Kapitalismus als Naturzustand deklarieren und Datenschutz als belanglose Kleingeisterei zur Seite wischen, hat das Warum auch keinerlei Bedeutung mehr. Dann sind universelle, moralische Prinzipien, wie Menschenrechte und Nächstenliebe, nur noch subjektive, und damit unrelevante Einzelmeinungen.

»Aber mein Chef braucht mich!«

chef_titelVorauseilender Gehorsam. Untertanenmentalität. Sklavenmoral. Millionen von Lohnarbeitern in Deutschland wollen gerne daran glauben, dass sie auf der Arbeitsstelle unersetzlich sind. Sie seien doch so zuverlässig, loyal, motiviert und würden so außergewöhnlich viel und einzigartiges leisten, was andere nie niemals könnten. Sie lechzen nach Lob, betteln nach Anerkennung. Doch während Unternehmen zwar vermeintlich soziale Methoden zur Motivationssteigerung anwenden, so sind sie nur selten an ihren Mitarbeitern ernsthaft interessiert. Das Menscheln ist in der Regel nur Mittel zum Zweck. Für die Motivationsverbesserung der Untertanen und somit für die Produktionsoptimierung des Betriebes. Weiterlesen

Business Intelligence

Die gewerkschaftsnahe Hans-Boeckler-Stiftung behauptet im Böckler Impuls 03/2016: »BWL-Studium: Betriebsräte sind kein Thema.« Die Ausbildungsinhalte von mehr als 50 Studiengängen an 25 Hochschulen wurden hierzu untersucht. Das Ergebnis: Mitbestimmung, Betriebsräte und Gewerkschaften kommen zwar am Rande vor, sind aber kein integraler Bestandteil des BWL-Studiums. Denn:

»Statt kollektiver Verhandlungen sind marktförmige Beziehungen zwischen Individuen vorgesehen.«

Ich kann das nur bestätigen. Während meines Studiums hatten wir öfter mal lebhafte Diskussionen mit BWL-Studenten. Für die meisten sind Humanismus, Menschenrechte und ethische Standards nicht nur Fremdworte, sondern auch moralische Handelshemnisse gewesen. Für so einige BWL-Schnösel ist die Welt ein großer Apfelbaum, bei dem jeder so viele Äpfel wie möglich pflücken will. Nur für sich, versteht sich. Soziale Interaktionen werden als Kosten-Nutzen-Matrix, Menschen als Humankapital und Verbraucher- sowie Arbeitsrechte als profitstörende Faktoren betrachtet. Für sie besteht die bessere Welt darin, dass der eigene Geldbeutel prall gefüllt wird.

Neulich im Schwimmbad: Teil 2

Manchmal besitzen banale Alltagserlebnisse so ihre ganz eigene Moralerfahrung. So ergeht es mir beispielsweise beim Bahnen ziehen im Schwimmbad. Während ich noch vor einiger Zeit ständig Rücksicht genommen habe und ausgewichen bin, so musste ich leider die Erfahrung machen, dass sich genau darauf besonders die Senioren verlassen (Jüngere weichen auch mal aus). Sie sehen mich quasi schon meilenweit kraulen kommen, rühren sich aber nicht einen Zentimeter vom Fleck, sondern erwarten, dass ich im Zickzack-Kurs durchs Becken kreise, wie ein Aal unter Speed. Diese einseitige Rücksichtnahme meinerseits, ging mir irgendwann tierisch auf den Sack, so dass ich nun streng meine Bahnen ziehe. Schwimmbojen, die mir in den Weg kommen, werden ab sofort gnadenlos abgedrängt.

Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich die ersten Diskussionen im Wasser mit älteren Damen über 60 hatte. Ob ich denn denke, alleine hier zu sein oder ob ich nicht so schwimmen könne, dass kein anderer davon nass werde und so weiter. Hochbetagte Vollblut-Omas, die im Duett nebeneinander in Standgeschwindigkeit dahintreiben, das halbe Bad mit ihren Gesprächen über Küche, Kinder und Krankheiten unterhalten, sowie sämtliche Bahnen mit Schneckengeschwindigkeit blockieren, wollen mir etwas über egoistisches Verhalten erzählen? Die traurige Moral: wenn der Klügere immer nachgibt, gewinnt am Ende immer der Dumme.

Und dann die Oppas, die auf der Herren-Toilette nie die Spülung betätigen... :sick: Ob die das Zuhause auch so machen?

Der Barbar in uns

»Damit dient der Barbaren-Topos seit der Antike dazu, Europas imperiale Außenbeziehungen zu strukturieren. [...] Der erste und gewalttätigste rogue state ist derjenige, der das Völkerrecht, als dessen Vorkämpfer er sich ausgibt, missachtet und fortwährend verletzt. Nämlich die USA.«

- Oliver Eberl. »Die Barbaren sind immer die Anderen«. Blätter. Ausgabe Juli 2015. S. 65

Anmerkung: Westliche Werte. Kolonialismus und Imperialismus. Zwei Weltkriege mit Millionen Toten. Vietnam. Angriffskriege gegen Libyen, Afghanistan, Irak, Syrien und gegen das ehemalige Jugoslawien. Sweat Shops. Massenhafte Umweltverschmutzungen. Weltweite wirtschaftliche Ausbeutung. Geheimdienst-Attentate und Putsche. Und dennoch: wir sind die Guten. Die Bösen sind (unter anderem) Nordkorea, der nahe Osten und Russland.

Erziehung zur Menschenverachtung

elternbriefeVor einiger Zeit saß ich im Wartezimmer eines Kinderarztes und las die Elternbriefe. Eine Initiative der katholischen Kirche, die nach eigener Aussage: »dazu beitragen (wollen), dass das Leben in Ehe und Familie gelingt. [...] Erarbeitet werden die Briefe von einem Team von Fachleuten: Erziehungsberatern, Ärztinnen, Theologen, Journalisten.« Klingt auf den ersten Blick unverfänglich und nobel. Als ich jedoch im Elternbrief Nr. 35 die Experten-Vorschläge gelesen habe, wie man als Eltern auf die Frage des Kindes »Warum sitzt der Mann auf dem Bürgersteig« reagieren sollte, kam mir die Galle hoch. Weiterlesen

»Wer wirklich arbeiten will, der findet auch eine Arbeit!«

work_titelTypisches Realsatire-Gespräch zwischen einem Erwerbslosen (E) und einem Lohnarbeiter (L).

L: Und was machst Du so?

E: Viel Lesen, mich mit Freunden treffen, meine Gedanken aufschreiben, meinem Sohn die Welt zeigen, Fahrrad fahren, kulturelle Einrichtungen besuchen...

L: (unterbricht) Ach so, ich meinte jetzt aber wo Du arbeitest?

E: Ich bin derzeit erwerbslos.

L: (heuchelt Mitleid und fühlt sich gleichzeitig überlegen) Oh. Und wie lange schon?

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Die Destruktivität des Blöden

ArendtIm Zuge des Eichmann-Prozesses im Jahre 1961 stellte die Philosophin Hannah Arendt, die Theorie auf, dass der wahrhaftig Böse nicht der Überzeugungstäter, sondern der Mensch sei, der kein Individuum mehr sein möchte und sich weigere selbständig zu denken. Sie bezeichnete den SS-Mann Adolf Eichmann eben nicht als triebgesteuertes Monster, sondern als einen durchschnittlichen Hanswurst, der stur und ohne eigenes Denken der Ideologie des Nationalsozialismus gefolgt sei. In der Negation der Individualität, der Weigerung seine Vernunft zu gebrauchen und in der dogmatischen Gesetzestreue, liege laut Arendt, die Banalität des Bösen. Der Schreibtischtäter und Befehlsempfänger, der keinerlei Interesse an Moral, Vernunft und Menschlichkeit mehr habe und sich nur der pragmatisch-bürokratischen Sachlichkeit (»Ich habe nur getan, was mir befohlen wurde!«) verpflichtet fühle, sei das wirklich Böse. Für diese Behauptung wurde und wird sie bis heute weltweit kritisiert. Dabei ist ihre These aktueller denn je. Weiterlesen