Der tägliche Lohnarbeitswahnsinn (15)

Viele Menschen wissen und spüren ganz genau, das in unserer Arbeitswelt so einiges schief läuft. Nur öffentlich reden will darüber kaum Jemand. Am Stammtisch dafür umso mehr. Heute möchte ich einzelne Meldungen, Berichte und Artikel rund um das Thema »Lohnarbeit« kommentieren.

Sie geben einen kleinen Einblick darüber, wie hier öffentliche Diskurse geführt werden, wie geframt und gewertet wird, welchen Habitus gutbürgerlich-sozialisierte Journalisten beim Thema »Arbeit«  (die vermutlich noch nie »ALG 2« beantragen mussten) aufweisen und welcher sagbare Rahmen (Overton-Fenster) überhaupt erwünscht und erlaubt ist.


1.)

telepolis.de vom 21. September 2024

»Ein Feelgood Manager ist in einem Unternehmen dafür zuständig, das Arbeitsklima zu optimieren. [...] Auch werden Führungskräfte zu Seminaren für positive Leadership entsandt. [...] Leistungssteigerung durch Human Relation.«

Seit dem durchschlagenden Erfolg des Neoliberalismus wird jede Form von struktureller Analyse vermieden. Motivation, Leistung, Erfolg — alles eine Sache der »Eigenverantwortung«, so die immerwiederkehrende Erzählung. Die ist mittlerweile sehr fest in den Köpfen der Menschen verankert. Viele denken ernsthaft, dass Lohn und Arbeitsbedingungen weniger relevant seien, als eine »positive Einstellung« und »gute Laune«.

Die Freiheit im Gefängnis ist wohl umso schöner, wenn die Gitterstäbe bunt angemalt sind.


2.)

tagesschau.de vom 19. September 2024

»Jetzt mit 61 ist sie wieder die Bewerberin — und bekommt nur Absagen. Vorurteile wie, die 50-Plus-Jährigen sind zu teuer, fallen häufig aus, sind ständig krank [...]

Ja, das denken viele. Ich glaube, es gibt noch wichtigere Faktoren, warum Unternehmen regelrecht Angst vor älteren Mitarbeitern haben: sie kennen sich im Arbeitsrecht besser aus und lassen sich weniger ausbeuten als die Jüngeren, die oft genug einfach froh sind, erst einmal einen Job zu haben.

Nicht wenige ältere Arbeitnehmer haben womöglich schon Kämpfe vor einem Arbeitsgericht ausgefochten und wissen auch, was ein Betriebsrat, ein Anwalt und eine Gewerkschaft sind. Dann doch lieber die U30-Leute nehmen, die noch optimistisch und naiv in die Lohnarbeitswelt starten. Und davon überzeugt sind, vom Chef »gebraucht« zu werden.


3.)

zdf.de

»Rechnerisch hätten im vergangenen Jahr mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden können [...] Besonders ausgeprägt waren die Engpässe der Untersuchung zufolge in sozialen Berufen. Aber auch im Handwerk fehlten Fachkräfte.«

630.000 offene Stellen treffen auf (offiziell gezählte!) rund 3 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Und wir alle wissen, dass bei der Arbeitslosenstatistik seit Jahrzehnten getäuscht, getrickst und gelogen wird, um sie kleinzurechnen. Wir haben sicher 5 Millionen, wenn nicht noch viel mehr Erwerbslose in Deutschland.

Jetzt könnte man behaupten, dass die Arbeitslosen alle nicht qualifiziert seien und/oder zu qualifizieren sind. Dann schaut man sich den vermeintlichen Fachkräftemangel in den Branchen an und sieht: es sind nicht die KI-Spezialisten oder die Atomphysiker, die dringend gesucht werden, sondern Erzieher, Handwerker und Pflegekräfte. Also exakt die Bereiche, mit den schlechtesten Löhnen und den miesesten Arbeitsbedingungen.

Der sogenannte »Fachkräftemangel« wäre sofort beendet, wenn anständige Löhne gezahlt sowie die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten massiv verbessert werden würden. Aber genau das passiert nicht. Stattdessen holt man sich Menschen aus der ganzen Welt, die nicht aufmucken und jeden prekären Job annehmen.


4.)

tagesspiegel.de vom 9. Mai 2024

»Es war ein Fehler, dass wir Möglichkeiten wie die Teilzeit von der Ausnahme zur rechtlich abgesicherten Regel erklärt haben. Teilzeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nur so ist der Wohlstand Deutschlands zu erhalten.«

Arbeit. Arbeit. Arbeit. Bis zum Burnout oder in die Depression? Warum gehen denn immer mehr Menschen in die Teilzeit? Beispielsweise Lehr- und Pflegekräfte? Weil diese Ketzer keinem Arbeitsfetisch mehr frönen und authentisch leben wollen, anstatt nur zu leben, um zu arbeiten? Können wir das nicht verbieten?

Der technische Fortschritt wäre längst da, um Millionen von Menschen die tägliche Plackerei zu erleichtern und ihnen dennoch ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Aber nein, der Kapitalismus mit all seinen Auswüchsen und der digital-finanzielle-militärische Komplex sowie Big Pharma und Big Tech brauchen »Wachstum« und »Profite«. Dem muss alles untergeordnet werden.

Übrigens:

Teilzeitarbeit (Zweiter Abschnitt)

§ 6 Förderung von Teilzeitarbeit

»Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmern, auch in leitenden Positionen, Teilzeitarbeit nach Maßgabe dieses Gesetzes zu ermöglichen.«

- Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz — TzBfG)


»Aber mein Chef braucht mich!«
»Der tägliche Lohnarbeitswahnnsinn 1–14«

6 Gedanken zu “Der tägliche Lohnarbeitswahnsinn (15)

  1. Weil sich auf diesem Blog soviel Jungspunde rumtreiben, ein uralter Song zum Thema: Ton Steine Scherben, Ich will nicht werden, was mein Alter ist:
    Arbeit macht das Leben süß, so süß wie Maschinenöl
    Ich mach den ganzen Tag nur Sachen, die ich gar nicht machen will
    Ich möchte gern mal meinem Chef ¹die Möbel gerade zieh’n¹
    ...

    »Der technische Fortschritt wäre längst da, um Millionen von Menschen die tägliche Plackerei zu erleichtern und ihnen dennoch ein würdevolles Leben zu ermöglichen.«
    Natürlich. Schon Keynes hatte vor langer Zeit eine Arbeitswoche von 15 Stunden vorhergesagt, alles darüber ist ein Armutszeugnis für die Menschheit, das die Versetzung in eine nachhaltige, humane Zukunft verunmöglicht. Wenn der Kretschmer unbedingt 40 Stunden arbeiten will, soll er mir mal seinen Kalender vorlegen, damit ich ihn ruckzuck auf 15 Stunden zusammenstreiche; Die anderen 25 Stunden kann er dann das CDU-Grundsatzprogramm und sämtliche Reden von Adenauer bis Merkel (Alle außer ›Eintagsfliege‹ Merz) auswendig lernen — Aber nicht schummeln, Ich kontrolliere nach!

    ¹Bemerkenswerte Metapher, die ich außer in diesem Song nie gehört habe. Alternativvorschlag: die Bücher entfrisier’n

  2. Ich verfolge seit über 10 Jahren die Stellenausschreibungen auf den Webseiten der lokalen Firmen in Bezug auf Softwareentwicklung. Der Anteil derer, die diese glaubwürdig ändern, wo somit Personalwechsel erkennbar ist, scheint mir gering. 6 Monate lang dasselbe ist Minimum, leuchtet ein, 1 Jahr lang normal, mehrere Jahre kommt vor, Rekord 7 Jahre (habe angerufen). Da suchen keine 10% der Firmen. Dem entsprechend bekomme ich 1‑Satz-Ablehnungen, man will nichtmal mit mir reden.
    Fachkräftemangel, so sieht er aus.

  3. @Udo

    Diese Erfahrung von Fake-Stellenangeboten habe ich schon vor Jahrzehnten gemacht: Stellenangebot, Bewerbung, Standardabsage »haben uns für einen anderen Bewerber entschieden« und noch am gleichen Tag exakt die gleiche Stellenanzeige neu online gestellt. Es geht wohl nur um Zwölfender-Reputationsgehabe von Firmen um nach dem Motto »Wir stellen ein!« wirtschaftliche Fitness zu simulieren. Die Arbeitslosen werden komplett überwacht, dass sie alles machen was ihnen vorgeschrieben wird. Die Firmen haben neoliberale Narrenfreiheit. Zitat aus »Mord im Orientexpress« (1974):

    Hercule Poirot: Cassetti was responsible for her murder. How does that strike you?
    Beddoes: I have often felt, sir, that instead of our employers requiring references from us, we should require references from them.

  4. @Udo @Orinoco

    Ich habe mir in meiner Zeit in einer Medienagentur von einem Personaler sagen lassen, dass diese »Fake-Stellenanzeigen« normal sind. Sie sollen der Konkurrenz »Wachstum« signalisieren und die Bewerber unter Druck setzen.

    Außerdem sind sie oft billiger als echte Werbeanzeigen. Denn wenn in der Stellenanzeige, das eigene Unternehmen mit einem großen Absatz (anstatt mit einer Zeile) vorgestellt wird, dann riecht das schon noch einer versteckten Eigenwerbung.

  5. @epikur

    Danke für die Bestätigung dieser arroganten Firmen- und Personalpolitik. Kann nur eben auch das Gegenteil bewirken, nämlich wenn dies nur allzu durchschaubar ist. Ich hab mich damals aus diesem Schmierentheater verabschiedet. Ich spare lieber einen Euro als mich zu erniedrigen vier davon zu »verdienen« und dabei acht zu erwirtschaften.

  6. Ja, ist mir bekannt, sollte wohl Allgemeinwissen sein. Aber nicht doch, es gibt die hartnäckigen, die selbst sowas abmeiern, „das glaube ich nicht, dann wären sie ja nur noch mit Bewerbungen beschäftigt“.
    Nun gut, ich wollte nur auf das durchgenudelte Stichwort des Fachkräftemangels hinaus.
    Halt. Es ist doch erstaunlich, wie offen gelogen wird. Es reicht, sich einfach von einigen Stellenausschreibungen den Tag zu vermerken und alle paar Monate mal nachzusehen. Auch das kriegt ein 5jähriger hin.

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