Neoliberale Menschlichkeit (2)

Am 25. März 2023 hat der Tagesspiegel einen Beitrag mit dem Titel: »Wenn Kinder in Armut aufwachsen: Ich habe Mama heimlich mein ganzes Taschengeld gegeben von Katja Demirci veröffentlicht. Bis vor kurzem war er noch frei zugänglich, nun ist er hinter der Paywall verschwunden. Interessant war vor allem ein Beitrag in der Kommentarsektion (aktuell 62 Kommentare), der die ganze Menschen- und Armen-Feindlichkeit in Deutschland sehr gut abgebildet hat. Er ist leider nur noch hinter der Paywall einsehbar, aber ich hatte ihn mir glücklicherweise vorher gespeichert.

»1. Deutschland ist ein reiches Land. Eines der reichsten Länder der Welt.
2. Deutschland ist sozial. Deutschland ist also ein Sozialstaat.
3. Aus 1 und 2 ergibt sich: Es gibt keine Armut in Deutschland. Hier muss niemand hungern und frieren. Niemand.«

Die Verteilung des gesellschaftlichen »Reichtums« ist heute gar kein Thema mehr. Wenn ständig behauptet wird: »Deutschland ist reich«, muss auch dazu gesagt werden, wer genau? So zu tun, als wären alle reich (»232.800 Euro im Durchschnitt«) ist eine typische Verschleierungstaktik und völlig realitätsfremd. Selbst das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) muss zugeben: »In Deutschland ist der Anteil der Armen in der letzten Dekade deutlich angestiegen. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, ist demnach zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent gestiegen.« Und ja, in Deutschland gibt es »Arbeitslosengeld 2« für potentiell Jeden. Nur die Willkür, die Schikane sowie die Menschenverachtung in den Jobcentern, dürfte mittlerweile auch legendär sein.

»Wer dennoch arm ist, der ist allein selbst schuld daran — siehe Punkt 2.«

Selbstverschuldete Armut. Das typische Argument der Neoliberalen. Ständig den Sozialstaat zusammenkürzen wollen, die öffentliche Infrastruktur (Wohnung, Wasser, Strom, Gesundheit, Bildung, Mobilität) den Profitgeiern zum Fraß vorwerfen und dann jede strukturelle Ungleichheit negieren und alles auf »Eigenverantwortung« schieben wollen. So wird seit über 30 Jahren »argumentiert«.

»Zu Punkt 1: Dieser besagt, dass Deutschland nicht nur materiell begütert ist. Es bietet auch ein vielfältigen Zugang zu Bildung und anderen Reichtumsressourcen, die ja jedem offen stehen. Es gibt kein Verbot, erfolgreich zu sein in Schule, Ausbildung, an der Uni, an der Börse. Sie sind offen für Jedermann.«

Jede PISA-und-Bildungs-Studie bestätigt seit Jahrzehnten, dass der »Bildungserfolg« in Deutschland sehr stark vom Elternhaus abhängt. Einmal arm, immer arm. Die »Aufstiegschancen« sind Nirgendwo so schlecht in Europa, wie in Deutschland. Hinzu kommen vielfältige strukturelle Diskriminierungen. Wer beispielsweise ohne Vitamin B, einen großen Unternehmens-Namen im Lebenslauf oder mit einem Abitur oder Uni-Abschluss aus einem weniger »angesagten Bundesland« daherkommt, hat gleich viel weniger »Chancen«. Ganz im Gegenteil: die »Reichtumsressourcen« sind nur sehr Wenigen vorbehalten.

»Aus all dem folgt: Jeder ist selbst verantwortlich für seine Armut. Auch Kinder. Denn es hindert sie nichts, überhaupt nichts und niemand daran, erfolgreiche Schüler, Stipendiaten, Handwerksmeister und/oder Akademiker zu werden. Das war so, ist so — und wird sich auch nie ändern.«

Da ist sie wieder: die selbstverschuldete Armut und das komplette Verschweigen von bewusst geschaffener, struktureller Ungleichheit, zum Vorteil der wenigen Superreichen. Flexibilisierung. Liberalisierung. Privatisierung. Das hier selbst Kinderarmut relativiert und via Täter-Opfer-Umkehr verharmlost wird, ist an Menschenfeindlichkeit kaum zu toppen.


»Seit Beginn der Corona-Pandemie hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses kassiert. Gleichzeitig leben 1,7 Milliarden Arbeitnehmer in Ländern, in denen Lebenshaltungskosten schneller steigen als Löhne. Erstmals seit 25 Jahren haben extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zugenommen

Oxfam

Nach den Neoliberalen ist das »freie Marktwirtschaft« und die »unsichtbare Hand« sorgt schon »irgendwie« für Gerechtigkeit. In Wahrheit bestimmen die Reichen und die Armen werden ausgebeutet. Ja, auch solche Wörter gibt es im öffentlichen Diskurs nicht: Ausbeutung. Kapitalismus. Lohnarbeit.


Fazit: Je größer die Armut zunimmt, desto größer werden Nebelkerzen, Ablenkungsthemen und Nebenkriegsschauplätze inszeniert und installiert. Bloß nicht mit den Ursachen beschäftigen! Keine Umverteilung thematisieren! Und nicht das K‑Wort in den Mund nehmen. Oder die Systemfrage stellen!

Kein Geld für Miete, Lebensmittel, Energie oder Familiengründung? Interessiert uns nicht. Darüber reden wir nicht. Stattdessen sind die Massenmedien sowie die gesellschaftlichen Debatten voll mit woker Identitätspolitik.


Neoliberale Menschlichkeit
Die identitätsgetriebene Linke

4 Gedanken zu “Neoliberale Menschlichkeit (2)

  1. Hier gilt die alte Weisheit: steter Tropfen höhlt den Stein.

    Seit mehr als 40 Jahren wird uns die neoliberale Ideologie in den Kopf gehämmert, überall, in allen Journalen, Zeitungen, in Radio, TV und direkt seitens der Politik.

    Das hat schlussendlich verfangen und die Mehrheit glaubt solchen Mist, wie dass jeder seines Glückes Schmied ist, dass man alles erreichen kann, wenn man sich nur genügend anstrengt — und wenn man das wider Erwarten nicht schafft, hat man sich eben zu wenig angestrengt.

    Wie weit sich diese Ideologie in unser eigenes Selbstbild, in unseren eigenen Wertekanon reingefressen und in der Folge unsere gesamte Lebensauffassung, sowohl in Bezug auf uns selbst wie auch auf unsere Mitmenschen verändert hat, wurde mir erst richtig bewusst, nachdem ich einmal, durch Zufall dieses grauenhafte Hollywood-Propaganda-Machwerk »Das Streben nach Glück« gesehen hatte.

    Immerhin ist dieser furchtbare Streifen so aufrichtig, oder wahrscheinlich eher unfreiwillig enttarnend, dass er, hier im konkreten Falle ebenjener neoliberalen Entwicklung in den USA, offen die Reaganomics als Triebfeder anführt.

  2. Kapitalismus halt. Seit den 80ern halt Mit Reagen und der Rücknahme des Spitzensteuersatzes und dem Handel mit Derivaten ging es los.
    Die Genereration die in den 70ern geboren ist hat von dem freien Leben eigentlich schon gar nichts mehr mitbekommen.
    Dagegen hilft nur Anarchie, wenn wir wieder keinen tiefen Staat haben wollen!

  3. @PV Truman war der erste Sargnagel des amerikanischen Welfarestate und der Umverteilung von unten nach oben. Aber das nur am Rande.
    Während die Hauptrolle der sozialen Herkunft an den Schulen schon immer bestand, hat sich durch Kürzungen, idiotische Lehrpläne, weder personell noch finanziell hinterlegte Inklusion, die Situation derart verschlechtert, dass auch die Mittelschicht es immer schwerer hat, die akademische Ausbildung ihrer Kinder zu garantieren. Entweder das Kind ist ein Genie, hat unglaubliches Glück mit einem bestimmten Lehrer oder es bedarf der Hausaufgabenhilfe oder einer Privatschule.

  4. Sicher muss man, wenn es um den Kapitalismus geht, viel weiter zurückgreifen.
    Nur wenn es um Dekaden des menschlichen Lebens geht, können wir uns auf der emotionalen Ebene nun mal auch nur höchstens die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachten.
    In glaube ich schon, das es signifikante Unterschiede bezüglich der Freiheiten des individuellen Lebens gegeben hat, die gerade in diesem Jahrhundert besonders prägend waren.
    Wir hatten, zumindest in der westlichen Hemisphäre, vorher nie dagewesene Möglichkeiten, uns Intellektuell und auch auf der kulturellen Ebene so individuell zu entfalten.
    Das ging m.E. auch nur tatsächlich eine Dekade lang so und zwar halt bis halt Anfang der 80er und dann war Schluss mit lustig.
    Danach fing es die Austeritätspolitik an zu greifen.

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