Kritik ist positives Denken

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»Immer musst Du alles so negativ sehen!« oder: »Du hast ja an allem etwas auszusetzen!« oder: »Musst Du immer so viel kritisieren?«, sind typische Vorwurf-Sätze, die kritisch eingestellte Menschen fast täglich hören. In der Vergangenheit habe ich mich zu diesem Phänomen bereits hier, hier und hier ausführlich dazu geäußert. Leider ist die absurde Behauptung, dass kritisches Denken zwingend mit einer negativen Lebenseinstellung verbunden sei, nach wie vor fest in den Köpfen der Leute verankert. Dabei verhält es sich genau umgekehrt: wer vor Armut, Ausbeutung, Unrecht und menschenverachtender Ideologie die Augen verschließt und davon nichts wissen will, weil es doch so anstrengende Themen seien, wer denkfaul, fatalistisch und obrigkeitshörig ist, wer seinen inneren moralischen Kompass mit Geld und Konsum zum Schweigen gebracht hat, wer seinen Verstand und seine Kreativität nur noch zur ökonomischen Verwertung einsetzen will – der ist dem Leben wahrhaft negativ gegenüber eingestellt. Egal, wie viel dabei gelächelt und gelacht wird.

Ich meine, also bin ich
Da sitzt man in einer gemütlichen Small-Talk-Runde und wagt es, zu einem Thema (beispielsweise zu Russland, den Massenmedien, sozialen Traditionen, der Lohnarbeitswelt oder unserem Wirtschaftssystem) eine andere, eine alternative Meinung und Perspektive zu formulieren. Betretenes Schweigen. Unangenehmes Wegschauen. Bis irgendjemand die Rolle des Verteidigers übernimmt. Solange bis man keine Argumente mehr hat, man das Thema geschickt wechseln kann oder sich die Gesprächsrunde auflöst. Zwangsharmonie und Zwangsoptimismus in Kombination mit einem neoliberal-eigennützigen Biedermeier-Weltverleugner-Weltbild, sind die heiligen Reliquien fast jeder Diskussionsrunde in der Familie, am Stammtisch oder auf der Lohnarbeit. Wer nicht im Meer der bigotten Konventionen schwimmen will, wird als Querulant, als Miesmacher und Pessimist gebrandmarkt. Denn es ist einfacher und bequemer, den Träger von alternativen Denk- und Sichtweisen zu verunglimpfen, als das eigene Weltbild zu hinterfragen.

Die Fähigkeit zur gesunden Neugier, einem Durst nach Horizonterweiterung, nach uneigennützigem (!) Wissen und die Bereitschaft zur gelegentlichen Selbstreflexion, geht den meisten Menschen völlig ab. Unabhängig davon, wie banal, infantil oder absurd das eigene Menschen- und Weltbild ist, so wird es doch als ein ganz persönlicher Besitz empfunden, den niemand wegnehmen könne. Und so wird der Kritiker nicht nur als Klugscheißer, Besserwisser oder chronischer Nörgler hingestellt, sondern auch als ein gemeiner Dieb, als Räuber und Zerstörer des eigenen Wertesystems verurteilt. Dabei sind Intelligenz, Wissen, Bildung, Meinung, Weltbild und Kreativität ständige Prozesse und keine festen Zustände. Sie alle sind stets im Wandel, bewusst oder unbewusst. So zu tun, als würde man nicht beeinflusst und geprägt werden, als wäre die eigene Meinung, eine selbst erarbeitete Leistung und ein Besitz, leugnet sämtliche massenmediale, pädagogische und sozialpsychologische Erkenntnisse und Mechanismen.

»Das Eingeschworensein aufs Positive wirkt als Schwerkraft, die alle hinunterzieht. Sie zeigt der opponierenden Regung sich überlegen, indem sie in die Verhandlung mit dieser gar nicht mehr eintritt.«

- Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Suhrkamp Verlag. 8. Auflage 2012. S. 209

Wer Veränderung will, soll sich die Haare färben
Ein Blick in das Synonyme-Lexikon Woxikon genügt, um fest zu stellen, dass der Begriff »Kritik« negativ besetzt ist. Kritik wird hier gleichgesetzt mit beispielsweise Geläster, Gemecker und Genörgel. Dieser konstruierte, vermeintlich semantische Zusammenhang kann als ein großer Erfolg von herrschaftlicher Sprachnormierung interpretiert werden. Denn so wird sachliche, konstruktive und angemessene Kritik zum interessengeleiteten, eigennützigen Gemotze. So werden soziale Bewegungen, Umweltschutz-Organisationen oder Gewerkschaften zu Pessimisten und Miesepetern denunziert, die man nicht ernst nehmen müsse. Dabei gibt es eine ganz klare Unterscheidung, was sachliche Kritik und was emotionales Genörgel ist. Geht es primär um mich, meinem Lebensumfeld, meine Interessen, meine Gefühle und meine Bedürfnisse? Oder geht es mir in erster Linie um die Sache, um ein übergeordnetes Ziel, um eine echte Veränderung, um gerechtere und bessere Verhältnisse für die Mehrheit? Hier wird man feststellen, dass die allermeisten tatsächlich nur am Nörgeln sind und dies insofern auch jedem anderen unterstellt wird, weil man selbst so ist.

focus.de vom 6. August 2013

focus.de vom 6. August 2013

Wer gesellschaftliche Verhältnisse kritisiere, der sei unglücklich, frustriert und/oder verbittert, so lautet eine immer wiederkehrende Legende. Denn da es »uns doch gut gehen würde«, muss ja jeder, der dies in Frage stellt und die hässliche, menschenverachtende Fratze des Kapitalismus offen legt, von Grund auf, ein negativer Mensch sein. Ein Miesmacher, Pessimist und Nörgler. Dieser staatstragende, mental-vorauseilende Gehorsam, denunziert jede abweichende Meinung, abseits vom Mainstream, als radikal, pessimistisch und verschwörungstheoretisch. Warum ausgerechnet Leugnen, Ignorieren und Nicht-Wissen-Wollen sowie das komplette Ablehnen von Alternativen, Grundpfeiler einer positiven Lebenseinstellung sein sollen, erschließt sich mir bis heute nicht. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die Liebe zur Weisheit, die Suche nach Ursachen und der stetige Drang nach Horizonterweiterung absolut lebensbejahende Eigenschaften sind.

Kommunikation ist mehr als Senden
Wer infantile Jubelperser sehen will, muss nur den Fernseher einschalten. Wer gekaufte Ja-Sager attraktiv findet, soll sich Werbung reinziehen oder seinen Chef anhimmeln. Wer nur Bestätigung und Aufmerksamkeit sucht, soll sein Facebook-Profilbild alle zwei Tage ändern. Wer Leid, Elend, Armut und Ausbeutung, die der Kapitalismus täglich weltweit produziert, nicht wahrhaben und verdrängen will, soll sich in seinen mental-sozial-emotionalen Bunker einschließen. Das alles hat mit einer authentischen Kommunikation, mit positivem Denken und einer lebensbejahenden Haltung aber rein gar nichts zu tun!

Auch eine konstruktive Streitkultur oder eine offene Diskussion wird in der Regel rigoros abgelehnt. Stattdessen wird der Diskursrahmen schon im Vorfeld festgelegt. In den diversen Polit-Talk-Shows ebenso, wie in den sozialen Netzwerken oder in der Familie. Wer die Freiheit hasst, dass freie Denken verabscheut und die beliebige Gleichgültigkeit zum Lebensprinzip erhebt, wird zum positiv-denkenden Menschen erklärt.  Zwangsoptimismus als Herrschaftsprinzip, bei dem jeder Freidenker zu einem  unangenehmen Zeitgenossen gemacht wird. Dabei gibt es keinen größeren  Pessimisten, als denjenigen, der nicht mehr frei denken, hoffen oder schöpferisch tätig sein, sondern nur noch monoton funktionieren will.

17 Gedanken zu “Kritik ist positives Denken

  1. »Hier wird man feststellen, dass die allermeisten tatsächlich nur am Nörgeln sind und dies insofern auch jedem anderen unterstellt wird, weil man selbst so ist.«

    Ich hatte lange dazu gebraucht, diesen Punkt zu verstehen, weil ich im Gegenzug immer allen Menschen Wissensdurst und den Wunsch unterstellt hatte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

  2. »Sei nicht so pessimistisch« ist auch so eine Floskel, die man dabei immer wieder hört. Was ist daran pessimistisch, indem ich kalkuliere, dass nicht alles im Leben glatt käuft, dass ich weiß wie ich ticke und welche Steine einem das System in den Weg streuen kann?

  3. (mache den hier separat, damit es nicht so lang aussieht)
    Was du da versuchst, ist Leuten ihr Weltbild zu zerstören. »Zerstören« in dem Sinne, dass du dieses, an welches sie glauben, obsolet machst und auf Grund dessen bricht es in sich zusammen.
    Sagen wir es so, genug Erfahrungen damit gemacht, das selbst zu versuchen, genug Dinge beobachtet — und es ist immer gescheitert.
    Das liegt daran, dass Menschen, aus rein psychologischen Gründen schon, ein inneres Bild brauchen, wie die Welt funktioniert; an welche Regeln sie sich halten können, welche logischen Zusammenhänge es gibt (z. B. »ich baue Mist« -> »ich werde dafür bestraft«). Hängt, denke ich, mit dem zusammen, was man »Urvertrauen« nennt. Die Wichtigkeit des Urvertrauens erkennt man, wenn man Leute begegnet, bei denen die Entwicklung dieses fehlgeschlagen ist.
    Wenn man versucht, Leuten die Unlogik und die faktischen Fehler in ihrem Weltbild hervorzuheben, sodass dieses nicht mehr aufrecht erhaltbar ist, ist es für sie, innerlich, wie ein völliges Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur der Unmöglichkeit, sondern etwas, was nicht sein darf.
    Denn, umgekehrt, man siehe, was passiert, wenn jemand sein Weltbild verliert: Menschen sind verwirrt, sie sind ängstlich, sie sind mit der Frage beschäftigt »Wem kann ich noch glauben?« und verzweifeln daran, darauf eine Antwort zu finden.
    Es ist fast schon wie ein natürlicher Selbstschutzreflex, dass man an einem Weltbild — egal, wie es aussieht — festhält, weil es so etwas wie einen inneren Ordnungspunkt darstellt. Entfällt dieser, entfällt auch die innere Ordnung und Fatalismus ist, was dabei sehr nahe liegt.
    Die Einzigen, die damit in der Lage sind, etwas umzugehen, sind die Leute, die schon früh die Erfahrung machen mussten, dass nicht alles so ist wie es scheint (weil sie diese Erfahrung gewohnt sind). Wo statt einem Urvertrauen ein Urmisstrauen gewachsen ist — und selbst davon sind es nicht einmal alle.
    Das Einzige, was in der Lage ist, jemandes Weltbild zu zerbrechen, der vorher vehement daran festhält, weil es für ihn ein Unding ist, dass dieses Weltbild auch falsch sein kann, ist — wenn Ereignisse passieren, die diesem Weltbild und der ihr beinhalteten Logik komplett widersprechen.
    Die z. B. daran glauben, Recht und Gesetz sind intakt und jeder bekommt das, was er verdient — plötzlich erleben sie jemanden, meinetwegen, den sie kennen, von dem sie wissen und vertrauen, dass er keine illegalen Dinge macht, derjenige wird plötzlich verurteilt und in die Psychiatrie gesteckt, weil er angeblich gefährlich oder nicht Herr seiner Sinne ist. Und es drängt sich während des Prozesses der Eindruck auf »mein Bekannter soll in der Psychiatrie verschwinden«.

    So lange solche Faktoren nicht gegeben sind, ist es schwer bis unmöglich daran etwas zu ändern. Man kann sich die Mühe machen, immer wieder Input zu geben, denn ohne Input kann sich erst recht gar nichts tun — man sollte aber auch immer die Weisheit beherzigen, man muss auch loslassen können. Realisieren und akzeptieren, wenn von der Gegenseite nichts kommt und eine Veränderung sogar nicht einmal gewünscht ist (weshalb verteidigen sie wohl ihr Weltbild / Glaubenssystem?).
    Sind Dinge, die jeder psychisch Angeschlagene, früher oder später in seinem Gesundungsprozess lernt — auch wenn dieser ein Leben lang dauert und immer wieder der Justierung bedarf.

  4. @matrixmann

    Einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Urmisstrauen vs. Urvertrauen sehe ich hier nicht. Das würde am Ende nämlich doch wieder bedeuten, dass Kritiker Pessimisten (Misstrauen) und Weltverleugner Optimisten seien (Vertrauen). Wie schon im Artikel erwähnt, verhält es sich für mich genau umgekehrt!

    Dinge und Sachverhalte zu hinterfragen, neugierig zu sein, seinen Horizont erweitern zu wollen, nachzudenken und sachlich zu kritisieren, funktioniert in der Regel eben nur, wenn man in der Lage ist, sich selbst zu reflektieren. Wenn man »Selbstvertrauen« hat, um es mal etwas banaler auszudrücken. Ein Urvertrauen darin, dass Veränderung möglich ist. Und die Ignoranten und Fatalisten haben jegliche Hoffnung auf eine bessere Welt bereits aufgegeben. Warum genau das optimistisch und eine »positive Lebenseinstellung« sein soll, kann und will ich nicht verstehen.

  5. Dabei gibt es eine ganz klare Unterscheidung, was sachliche Kritik und was emotionales Genörgel ist.

    Ganz so klar finde ich die hier formulierte Unterscheidung aber nicht. Erstens geht es mir durchaus um ein besseres Leben für mich selbst, ich vermute gar den (Primär-) Antrieb für Kritik in dem auch ganz persönlichen Wunsch, so wie das hier und jetzt organisiert ist, eben nicht leben zu wollen. Zweitens habe ich auch oft gewisse Schwierigkeiten mit Leuten, denen es nur noch um ›die Sache‹ geht und die dabei nicht nur ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse unterdrücken oder aus den Augen verlieren, sondern dabei meistens auch noch gleich die aller anderen.

    Ich würde die Linie daher vielleicht ein ganz klein bisschen anders ziehen wollen — geht es ausschließlich um mein eigenes Befinden und allenfalls noch das meines persönlichen kleinen Umfeldes oder ist dieser Wunsch notwendig eingebettet in den Wunsch nach einem besseren Leben für möglichst alle? Auch den Begriff ›Mehrheit‹ würde ich hier meiden wollen.

    Und ich möchte natürlich auch die Gelegenheit nicht versäumen, Wat. zu widersprechen: Kritik muss jederzeit auch ohne Lösungsvorschlag möglich sein. ;) Sie muss nur offen sein für Vorschläge.

  6. Laß mal ruhig meine seit dreißig Jahren von mir benutzte Kurzfassung stehen @Peinhart. Sie meint ja nicht profan, daß ›Du‹ den Lösungsvorschlag selbst bringen mußt. Kritik ist ja nun doch eher selten etwas, was jemand nur für sich im stillen und ansonsten leeren Kämmerlein ›fabriziert‹...

  7. »Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken
    und sich nicht an jeder Dummheit begeistern.
    Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.«

    Antonio Gramsci, »Gefängnishefte«

    Dem ist fast nichts hinzu zu fügen, außer: Man selbst muss
    sich zu einem solchen Menschen entwickeln. Lebenslang –
    vielleicht die wichtigste Ausprägung lebenslangen Lernens.

  8. @epikur
    Vielleicht denke ich auch wieder zu hoch... »Urvertrauen« und »Urmisstrauen sind zwei Begriffe, die in der Psychologie feste Bedeutungen haben, wofür sie stehen.
    »Urvertrauen« ist das, wenn man glaubt, was einem gesagt wird. Wenn man an die grundlegende Richtigkeit von dem glaubt, was Menschen tun und dass nicht alle Menschen böse sind und einem etwas antun wollen.
    »Urmisstrauen« ist, wenn man instinktiv immer doppelbödig denkt. Wenn man instinktiv vom anderen annimmt, dass er einem nichts gutes will, und man sich fragt »Warum ist der stinkfreundlich zu mir? Was will der von mir? Will der was unanständiges von mir? Will der was, was überhaupt nicht in meinem Interesse ist? Schlägt der mich gleich?«

    Wenn man ständig vom anderen annimmt, dass er einem etwas schlimmes antun will, dann sehe ich das als Problem an — grundlegend aber halte ich ein gesundes basisches Misstrauen für unerlässlich. Denn in dieser Eigenschaft sind die mit dem gefestigten Urvertrauen manchmal etwas begriffsstutzig — sie haben damit ein Problem, wahrzunehmen und sich einzugestehen, wenn jemand ihnen tatsächlich einmal nichts gutes will. Man kann es auch schon fast »naiv« nennen.
    Das liegt, schlicht und ergreifend daran, dass sie mit der Erfahrung, jemand meint etwas gegenteilig zu dem, welche Worte und Handlungen er benutzt, schlecht umgehen können. Nie oder so gut wie nie damit konfrontiert waren und es nicht zu ihrem Weltbild gehört.

    Ich betrachte es grundlegend nicht als negativ, wenn man in diesen Bahnen denkt und aufgrund dessen oft selbst mitdenkt.
    Vielleicht ist der Ursprung dessen negativ im psychologischen Sinne — das mit dem grundliegend als »negativ« ansehen, in allen Farben und Formen, halte ich aber für so ein gesellschaftliches Ding, wofür ich schon zu alt bin, um mir das noch in meinen eigenen Ansichten so zu eigen zu machen. Da bin ich schon schlauer geworden.

  9. Adorno bemerkt dazu in »Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft« von 1969 folgendes:

    »Wesentlich deutsch ist ein antikritisches Schema, das aus der Philosophie ins Gewäsch herabsank, die Anrufung des Positiven. Stets findet man dem Wort Kritik, wenn es denn durchaus toleriert werden muss, das Wort konstruktiv beigesellt, das ein Lebkuchenwort darstellt. Dem entgegenzusetzen wäre, dass das Falsche einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Besseren, Richtigen ist.«

    Es gibt nun mal nur eine (im med, Sinne) Gesundheit, aber viele Krankheiten.

  10. Solche Worte aus Deiner Feder muten gar seltsam an. ;-) Warst Du es nicht, der mir wiederholt »Gebashe« vorgeworfen hat, wenn ich in den vergangenen Monaten Kritik geäußert habe? Oder ist Kritik nur dann »gute« Kritik, wenn sie die »Richtigen« trifft — und nicht etwa die vermeintlich »eigenen Reihen«? :-)

    Aber wie auch immer — Deinen wunderbaren Text zu diesem Thema unterschreibe ich, möchte aber ausdrücklich hinzufügen, dass es glücklicherweise (!) keine Instanz gibt, die festlegt, wann Kritik angebracht ist und wann nicht. Dieser äußerst wichtige Aspekt sollte nicht unterschlagen werden.

    Liebe Grüße!

  11. So so ein Zufall. Auf einem halbstündigen geistigen Weg bin ich heute in den gleichen Bereich gelangt. Mir hat es sich dann so dargestellt: in der heutigen Zeit gibt es Unsicherheit, wenn man kritisiert, worin man nicht erfolgreich ist. Wenn du heute die Arbeitswelt kritisierst, dann mußt du dich früher oder später einmal ausweisen, was du in dieser Arbeitswelt überhaupt tust. Solche Situationen habe ich schon öfters erlebt. Mal ging es um mich, mal waren andere die Protagonisten. Dann muss man genau schauen: kommt die Offenbarung, dass der Kritiker es ’nur etwas tue‹, er auf der Karrierevorstellung ganz residiert, dann kommt es zur Metamorphose in der Gruppe. Als löste sich der gemeinsame Halt unter den Füßen, bäumt sich die eine Seite auf, wird sicherer, neigt sich nach vorne in die Angriffshaltung, gewinnt Spielraum, ist erleichtert, die Bewegungen gehen leichter von statten. Der Kritiker wird eingerollt, als würde er tiefer gestellt, als würden seine Hände und seine Stimme kleiner und leiser, als würden seine Töne heller und die Töne anderer lauter, als bräuchten seine Argumente immer 5 Rechtertigungen und die der anderen kaum mehr einen ganzen Satz. Wie eine Mannschaft, deren Gegner plötzlich mit drei Mann weniger spielen muss. Man kennt solche Sprachspiele von Wittgenstein. Die Buchstaben, der gespochene Laut sind nur mehr haardünne Skelette, die fast schon belanglos geworden sind. Die ganze Situation ist außersprachlich konstituiert worden, es wirkt die überindividuelle Machtkonstellation durch die Subjekte hindurch und erzeugt die Anordnung.
    Im Großen und Ganzen ist es meine Ansicht, dass diese Phänomene der Negativität von Kritik von zwei Aspekten fociert worden sind. Tatsächlich schreibt ja schon Adorno hellwach darüber, als lebte er heute. Und für uns wäre diese Zeit damals gewiss weit weniger künstlich positiv eingestellt. Wie auch immer. Die eine Seite ist jene, dass die Herrschaftskonstellation, in der wir leben, das Innenleben, das Psychische operationalisiert hat. Salopp gesagt, eine maligne Psychotherapie. Die Mittel der Psychotherapie erscheinen dagegen fast schon mürbe, abgesehen davon, dass so manche psychotherapeutische Schule sich im Spiegelkabinett des Zugriffs auf das Innenleben nicht mehr zu orientieren vermag und interferenzlos Therapie und Arbeitsmarktfitnessverbesserung in einander übergehen. Daher fällt bei uns auch der äußerlich repressive Charakter zu einem großen Teil weg. Die tyrannische Show fehlt ein bisschen. Da kann man keine Panzer oder groß aufgemalte Tyrannen herzeigen, die Lärm machen. Unreflektiert betrachtet, erscheint es als Fortschritt: das grauenhafte äußerlich-visueller Unterdrückung ist verschwunden. Schau, diese Welt da hat ein großes Übel weniger. Darin liegt ja auch ein Mitgrund für die Vorliebe des politischen Etablissements, Tyrannen präsentieren zu können und am besten weggebombte Tyrannen. Und wo diese Bild wirkt, wird das wegbomben aus der Distanz genossen. Der zweite Aspekt ist jener, dass die Machtkonstellation sich in diesem Vorgang unsichtbar macht. Sie müßte ja nicht. Sie könnte ja starke Identifikation verlangen. Tut sie aber nicht. Man tut sich heute ja in der Tat schwer, die Machtzentren ausfindig zu machen. Sind es anonyme Regeln? Sind es die 5% Superreiche? Sind es netzhafte Riesenakteure? Stattdessen wird die Ansicht promoviert, dass ein Indivduum seiner selbst Herr sei und von 0 bis 100 alles was es wollte, machen und haben kann. Man befindet sich daher in einer guten, von äußerer Gewalt weitgehend befreiten Welt, die zugleich noch ein nie versiegender Quell von belustigenden Artefakten ist und jederzeit offen stehende Möglichkeiten bietet. Das ist doch ein tolles Leitbild für eine Welt? Überall heißt es, dass es im Normalfall so sei.
    Offenbar geht es bei all dem auch um eine Haltung im Individuum, wie es mit Geschlossenheit umgeht. Geschlossenheit vor einem Sog ins Nichts. Wo die Gewichtung der Elemente abflacht, wie keine Sinnkörnung sichtbar ist, wo das Handeln keine Zukunft findet, wo alles sich um die eigene Achse dreht, wo keine tragende Struktur wirkt, da ist Geschlossenheit abhanden gekommen. Nichtsdestotrotz entsteht gerade darin nciht ein weniger an Leben, sondern eine eigene Fülle des Lebens. So gesehen geht es um Geschlossenheitsgrade. Kritik arbeitet solche Geschlossenheit ab, nie ganz, sie braucht ja selbst einen Geschlossenheitsgrad, aber einen, gewissermaßen, nichtigeren. Meinerseits habe ich etwas Passendes hierin gefunden:
    ›Sich nichts unterwerfen, keinem Menschen, keiner Liebe, keiner Idee, jene distanzierte Unabhängigkeit wahren, die darin besteht, weder an die Wahrheit zu glauben, falls es sie denn gäbe, noch an den Nutzen, sie zu kennen — dies, scheint mir, ist die rechte Befindlichkeit für das geistige, innere Leben von Menschen, die nicht gedankenlos leben können.‹ Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe.

  12. Zum Beitrag: Ja, es ist eine Seuche mit diesem »Positivismus«; da kann man auch Parallelen in Sachen Flüchtlinge ziehen... Auch hier ziehen Menschen Schutzwälle hoch, um sich (aber vor allem das verkümmerte Restgewissen) vor der Realität (Krieg, Tod, Not) zu schützen... Wenn mich eins an dieser Gesellschaft so richtig ankotzt, ist es diese eiskalte Ignoranz!

    Persönlich hab ich ganz aktuell in zwei Fällen grade auch wieder die immer gleiche Erfahrung gemacht: Eine langjährige e‑mail-Bekanntschaft endete nun endgültig (nach den immer und immer wieder gleichen, hohlen, undurchdachten »Ratschlägen« — man schrieb teils Monologe in Buchstärke — aber all dies wurde ignoriert. Stattdessen: Matrix Reloaded...). Und eine neue Bekanntschaft (Fotografenkollege) zeichnete sich auch recht schnell dadurch aus, alle geschilderten negativen Erlebnisse (meinerseits) zu ignorieren und stur am seligen Glauben an den sein eigenes (Un)Glück Schmiedenden festzuhalten. »Heute suchen so viele Menschen die Schuld immer nur bei anderen«...! Wie bitte...!?

  13. @Dennis82

    »»Heute suchen so viele Menschen die Schuld immer nur bei anderen«...! Wie bitte...!?«

    Richtig. Du bist schuld für die Massenerwerbslosigkeit. Für die Rüstungsexporte in Kopf-Ab-Diktaturen. Für CIA Folter. Kriege. Banken-Skandale etc. etc. Diese unsägliche Eigenverantwortungs-Rhetorik, macht die Opfer nicht nur zu Tätern, sondern verhindert auch effektiv jede Form von Solidarität. Ich vermute, das ist so gewollt.

  14. @epikur
    Hätte da eine kleine Einwende. »Es ist nicht nur schwarz und weiß, sondern schwarz und weiß.«
    Es scheint mir, als hätten die Leute ein selten dämliches Talent, sich in Situationen Eigenverantwortung zuzuweisen, wo sie, realistisch gesehen, gar keine Eigenverantwortung walten lassen können, und in Situationen, wo es durchaus angebracht ist, auf sich selbst zu schauen, haben sie nichts weiter übrig als alle anderen sind schuld. Wie verzogene Gören, die es sich immer zurecht machen wie es ihnen gerade passt. Oder Kinder, die man einer Gehirnwäsche unterzogen hat.

  15. @epikur: Da kommt halt ein wesentlicher (allerdings kaum beachteter) Mechanismus innerhalb unseres kapitalistischen Lohnarbeitssystems zum Vorschein, den ich früher mal als »vergifteten Stolz« bezeichnet habe; wenn das Belohnungszentrum im Gehirn mit Vorsatz vom Gesellschaftssystem überlistet wird! Wenn Menschen in irgend einer Form durch »Leistung« »Erfolg« haben und / oder sich »glücklich« schätzen (oder sich dies auch notfalls mit zugekniffenen Augen selbst einreden), verdanken sie ihren »Status« also ja auch dem« System«, welches ihnen dies ermöglicht hat. Aber wie das mit dem Wettbewerb so ist: Mehrheitlich produziert er: Verlierer (die man im Dunkeln nicht sieht). Die sind dann aber »selbst Schuld«.

    Was mich in Sachen »Eigenverantwortung« besonders nervt ist, wenn es von »erfolgreichen« Leuten kommt, die dann unterschiedlichste Grundvoraussetzungen als auch simples Glück (wird ungemein unterschätzt — die Anstalt hatte dazu ja ne schöne Nummer in Sachen Geburtslotterie!) oder persönliche Beziehungen schlicht: nicht wahrnehmen (wollen).

    Wie der Fotofritze. Das »System« hat ihn(!) mit »Erfolg« geadelt, also kann es ja nicht falsch sein. Es infrage zu stellen wird dann auch als Angriff auf die eigene »Leistung« betrachtet. Platte Mantren wie »jeder bekommt, was er verdient« haben da dann Hochkonjunktur. Auch wenn der andere detailliert die (auch systemischen) Unterschiede aufzeigt, die letzten Endes zu weniger »Erfolg« führten... Aber selbst dann wird einem das kleine Bisschen Solidarität strikt verweigert!

    Oder wie die ehemalige Bekannte, die nun mit Anfang 30 die dritte Ausbildung (dieses Mal im jeder Ausbeutung unverdächtigen Pflegebereich...) macht, um ihre bedingungslose Arbeitsmarktkonformität zu unterstreichen. »Ich bin glücklich«. Na denn. Hauptsache DU bist glücklich. Der Rest kann deinet wegen Dosen sammeln...

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