Am Rande der Nacht (F 1983)

»Tchao Pantin«, Regie und Buch: Claude Berri; mit Coluche (Michel Colucci), Agnès Soral, Richard Anconina, Philippe Léotard

Es ist selten, dass ein deutscher Titel die Grundstimmung eines Filmes besser trifft als der Originaltitel. »Tchao Pantin!« heißt so viel wie: »Tschüss, Trottel!« Das klingt zwar rotziger als der deutsche Titel Am Rande der Nacht, trotzdem fängt der deutsche die Atmosphäre besser ein. Denn Atmosphäre ist bei diesem Film von Claude Berri aus dem Jahr 1983 alles, vielleicht sogar die heimliche Hauptdarstellerin. Gäbe es einen César für Atmosphäre, dann hätte Am Rande der Nacht 1984 nicht fünf, sondern sechs bekommen müssen.

Der ehemalige Polizist Lambert (Coluche) ist ein Wrack. Er schiebt in einem herunter gekommenen Pariser Vorort – ironischerweise Belleville – Nachtschicht an einer Tankstelle und ertränkt seinen Frust im Alkohol. Eines Nachts kommt der junge Araber Bensoussan (Richard Anconina) und bittet um Hilfe mit seinem Moped. Bensoussan besucht den alten Kauz wieder und es entwickelt sich bald eine Art Vater-Sohn-Beziehung. Die Sympathie der beiden ist kein Zufall: Als Lambert herausfindet, dass der Junge ein Dealer ist, versucht er ihn, aus dem Milieu heraus zu holen. Sein verstorbener Sohn war drogenabhängig und er fühlt sich schuldig, dass ihm das damals als Polizist nicht gelungen ist, nicht zuletzt, weil er es mit Gewalt versucht hatte.

Die zwei von der Tankstelle: Bensoussan (Richard Anconina), Lambert (Coluche)

Als Bensoussan sich in die junge Punkerin Lola (Agnès Soral) verliebt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Um ihr zu imponieren klaut er das Motorrad seines Zwischenhändlers Rachid und hat eine kurze Affäre mit ihr. Rachids Schergen finden ihn, schlagen ihn erst brutal zusammen und bringen ihn ein paar Tage später auf bestialische Weise um. Lambert sieht das von seiner Tankstelle mit an und kann nichts tun. Er nimmt Kontakt zu Lola auf, die er als Informantin braucht und beschließt, den Tod des Jungen zu rächen.

Was dann beginnt, hat nichts gemein mit den zahlreichen Rachefeldzugs- und Selbstjustiz-Dramen a’la Ein Mann sieht rot. In dem Moment, in dem Lambert den sterbenden Bensoussan in den Armen hält und seinen Arbeitgeber um ein paar unbezahlte freie Tage bittet, ist klar, dass alles auf ein tragisches und blutiges Ende hinauslaufen wird. Denn es ist ebenso klar, dass sein Vorhaben, sich im Alleingang mit der Pariser Drogenmafia anzulegen, glatter Selbstmord ist. Auch Lolas verzweifelte Versuche, ihn aufzuhalten, sind vergebens (Lola: »Wenn Du da jetzt hingehst, dann bist Du tot!« Lambert: »Ich bin sowieso schon tot.«). Sein ehemaliger Kollege (Philippe Léotard), der die Ermittlungen in dem Fall leitet, bemerkt schnell, was vor sich geht, unternimmt jedoch nichts, ihn aufzuhalten. Ahnt er, dass das Schicksal sowieso nicht zu ändern ist? Hat er akzeptiert, dass Lambert mit dem Leben abgeschlossen hat? Sieht er seinen ehemaligen Kollegen vielleicht als willkommenen Erfüllungsgehilfen für das, was seiner Meinung nach schon längst hätte passieren müssen – dass jemand das Drogenkartell mit seinen eigenen Mitteln bekämpft? Es gibt keine Antwort.

Die Polizei (Philippe Léotard, r.): ratlos

Der 1986 viel zu früh verstorbene Coluche ist in Deutschland vor allem in den Siebzigerjahren durch seine Auftritte in den Klamotten von Louis de Funés berühmt geworden, wo er meist den dicken Tolpatsch gab. Er war aber weitaus mehr als das: An seinem Theater Café de la gare machte Gérard Depardieu 1968 die ersten Gehversuche als Schauspieler. Auch weniger bekannt in Deutschland ist sein Engagement gegen Rassismus und Armut: Er gründete die Restaurants du Coeur, in denen Obdachlose und Arme bis heute kostenlos bewirtet werden. Wer in diesem Film in sein todmüdes, resigniertes Gesicht schaut, erkennt schnell, dass er nicht nur ein Komiker, sondern ein Schauspieler von Graden war. Auch Agnès Soral als Lola ist phantastisch: Sie ist nicht einfach eine fashionable Rotznase, sondern eine weitere Verwundete, die die Geister ihrer Vergangenheit los werden will. Sie taumelt mit verletztem Trauerblick durch die Welt und sieht in dem viel älteren Lambert einen Seelenverwandten.

»Wenn du da hingehst, dann bist du tot!«: Lola (Agnès Soral)

Großartig die Bildsprache: Jede Einstellung ist bis ins Detail komponiert. Das optische Leitmotiv halb geöffneter Türen, die Figuren – und manchmal Welten – voneinander trennen, zieht sich durch den ganzen Film. Ich habe nicht mitgezählt, aber es dürfte nicht mehr als drei bis vier Sequenzen geben, in der mattes Tageslicht die Szenerie beleuchtet. Und wenn, dann regnet es meistens. Ansonsten ein reines Nachtstück, beleuchtet hier und da nur von grellem Neonlicht. In dieser Welt der bindungslosen Gestrandeten, scheint keine Sonne. Paris ist hier nicht die Stadt der Liebe und der Lichter, sondern eine verrottete, dunkle Vorhölle, deren Elend sich in Herzen und Seelen der Bewohner frisst. Nur ganz am Schluss dämmert ein fahler Morgen, aber da ist es zu spät.

Dieses kleine, sträflich unterschätzte Meisterwerk zählt zu den atmosphärisch dichtesten Filmen der Achtziger und ist nebenbei auch einer der besten Paris-Filme. Wenn überhaupt, dann wird er irgendwo im Nachtprogramm geparkt. Weil ich leider kein Französisch kann, ist es eine Schande, dass diese Perle bis jetzt nicht als DVD mit deutscher Tonspur zu haben ist.

Screenshots via moviescreenshots.blogspot.com

Diese Filmkritik ist ein Gastbeitrag von Stefan. Er hat seit Anfang September seinen eigenen Blog: »Fliegende Bretter« — Nicht immer kritische Betrachtungen über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport. Dafür, dass er gewarnt hat, dass er nicht so häufig bloggen kann, gibt es aber schon einiges zu lesen.

Tchao Pantin, Regie und Buch: Claude Berri; mit Coluche (Michel Colucci), Agnès Soral, Richard Anconina, Philippe Léotard

 

Es ist selten, dass ein deutscher Titel die Grundstimmung eines Filmes besser trifft als der Originaltitel.Tchao Pantin!heißt so viel wie:Tschüss, Trottel!Das klingt zwar rotziger als der deutsche Titel Am Rande der Nacht, trotzdem ist der deutsche besser. Denn bei diesem Film von Claude Berri aus dem Jahr 1983 ist die Atmosphäre alles, vielleicht sogar die eigentliche Hauptdarstellerin. Gäbe es einen César für Atmosphäre, dann hätte Am Rande der Nacht 1984 nicht fünf, sondern sechs bekommen müssen.

 

Der ehemalige Polizist Lambert (Coluche) ist ein Wrack. Er schiebt in einem herunter gekommenen Pariser Vorort – ironischerweise Belleville – Nachtschicht an einer Tankstelle und ertränkt seinen Frust im Alkohol. Eines Nachts kommt der junge Araber Bensoussan (Richard Anconina) und bittet um Hilfe mit seinem Moped. Bensoussan besucht den alten Kauz wieder und es entwickelt sich bald eine Art Vater-Sohn-Beziehung. Die Sympathie der beiden ist kein Zufall: Als Lambert herausfindet, dass der Junge ein Dealer ist, versucht er ihn, aus dem Milieu heraus zu holen. Sein verstorbener Sohn war drogenabhängig und er fühlt sich schuldig, dass ihm das damals als Polizist nicht gelungen ist, nicht zuletzt, weil er es mit Gewalt versucht hatte.

6 Gedanken zu “Am Rande der Nacht (F 1983)

  1. Großes Lob für diesen ausgesprochen atmosphärischen Text. Coluche hier gefunden zu haben, hat mich schon überrascht. Ich dachte, den kennt in Deutschland keiner — außer eben vom ollen Funés, wo er in einer Klamotte dessen Sohn spielt, der heimlich im Zirkus einen Clown gibt, während Vater Gourmetkritiker ist. (Brust oder Keule)

    Der französische Film der Achtziger birgt manche Perle. Depardieu neben Fanny Ardant 1981 in der »Frau nebenan« — oder die Deneuve in der »letzten Metro«... schade, dass man die kaum mehr ausstrahlt.

  2. Vielen Dank, Roberto! Lob aus berufenem Munde ist doppelt schön. Ich habe mir vorgenommen, in diesem Jahr noch ›Ein mörderischer Sommer‹ mit Isabelle Adjani und Alain Souchon unter die Finger zu nehmen. Übrigens: Hier in der Gegend gibt es eine Suppenküche namens ›Kolüsch‹ (www.koluesch.de), die sich an Coluches Idealen orientiert.

    Danke Scribine, genau so hatte ich mir das vorgestellt. :-)

  3. Sehr guter und schöner Text zu einem sehr guten Film (ich habe den noch als VHS-Cassette, immerhin — jedoch mit einem schrecklichen Cover).

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