»Nur ein kleiner Teil des Lebens ist wahres Leben«...

der ganze übrige Teil ist nicht Leben, ist bloße Zeit. Von allen Seiten drängt und stürmt das Unheil an und lässt nicht zu, dass man den Blick erhebe zur Betrachtung der Wahrheit, drückt die Menschen vielmehr in die Tiefe und fesselt sie an die Begierden. Niemals wird es ihnen möglich, zu sich selbst zu kommen, und tritt zufällig mal eine Pause ein, dann schwanken sie hin und her wie das tiefe Meer, das auch nach dem Sturm noch in Bewegung ist; kurz, niemals lassen ihre Begierden sie in Ruhe.

Und meinst Du etwa, ich spräche nur von denen, über deren beklagenswerte Lage alle einig sind? Blicke hin auf jene, die allgemein als Glückskinder angestaunt werden: sie ersticken an ihrem eigenen Glücke. Wie vielen wird der Reichtum zur Last! Wie vielen raubt das Rednergeschäft und das tägliche Verlangen, ihr Talent leuchten zu lassen, die wahre Lebenskraft! Wie vielen bieten infolge des unaufhörlichen Sinnengenusses den Anblick von wandelnden Leichen! Kurz, gehe sie alle durch, vom niedrigsten bis zum höchsten: Der eine sucht einen Anwalt, der andere stellt sich ihm zur Verfügung; der eine ist in Gefahr, der andere übernimmt die Verteidigung; wieder ein anderer fällt das Urteil; keiner sichert sich sein Recht über sich selbst; der eine verzehrt sich im Dienst für den anderen. Frage nach jenen Stützen der Gesellschaft, deren Namen auswendig gelernt werden, Du wirst sehen, man unterscheidet sie nach folgenden Merkmalen: der eine dient diesem, der andere jenem, keiner sich selbst.

[der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca in: »Von der Kürze des Lebens«]

7 Gedanken zu “»Nur ein kleiner Teil des Lebens ist wahres Leben«...

  1. adorno zitiert zu beginn seiner minima moralia ferdinand kürnberger: das leben lebt nicht. wenn man hört, was täglich in dieser welt an grausamkeiten passiert, dann kann es kaum noch schlimmer werden.

  2. Ist doch interessant wieviel sich in 2000 Jahren nicht verändert hat? Oder?

    Kein Wunder, dass man heute etwas schräg angesehen wird, wenn man behauptet, dass man aus der Geschichte — auch der antiken — etwas lernen könnte, wenn man wollte.

    Nein, die eigene Verwandtschaft meinte mal — bei mir, vor Jahren -, ein Schwager um genau zu sein, so richtig abschätzig, dass kannst ja nur du sein, der so etwas liest.

    Was las ich damals so suberversives? Es war die »Illias« von Homer.

    Willkommen im Club, lieber ZG Blog — auch so ein »Geschichtsfuzzy« wie ich?

    Ich kann nur anfügen, weder mein Schwager noch sein Sohn haben je ein Buch — zum Lesen — in der Hand gehabt, deren Bildung beschränkt sich tatsächlich auf »Bild, BamS und Glotze«, um einmal Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der solche Menschen liebte, frei zu zitieren.

    Schäuble soll übrigens, hinsichtlich »Bild« mit einem ähnlichen Spruch »geglänzt« haben — erst neulich. Die Bildungsferne ist ergo erwünscht, und Menschen die du — ZGBlog, als Seneca-Leser, und ich, als Leser von Cicero und Homer, sind halt »intellektuelle Außenseiter« und »Geschichtsfuzzys«.

    Ich seh mich übrigens nicht so, aber leider wird man so hingestellt — von »bildungsfernen Menschen«, die den ganzen Tag am Computer, der Glotze oder sonst einem Volksverblödungsinstrument verbringen.

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

  3. Übrigens, ich finde es toll, dass du antike Literatur zitierst, denn auch hier tut sich ein riesiger Block an »Meinungsmache« auf.

    Wer die HBO-Miniserie »Rom« komplett gesehen hat, der weiß was ich meine, dort wird die Geschichte so verhunzt, dass TV-Gucker meinen, die römische Geschichte wäre nicht über antike Literatur überliefert worden sondern von den Regisseuren, der geschichtsfälschenden, HBO-Serie.

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

  4. @epikur

    Nur ein Beispiel, da ich die Cicero-Biografie von Marion Giebel kenne.

    Titus Pullo ist eine frei erfundene Figur, Cicero starb nicht im Garten, sondern wie ein »echter Römer« als er seinen Häschern den Kopf aus der Sänfte entgegenhielt, die ihn abschlugen und seine Hände damit, die — das wird in Rom gezeigt, zur Abschreckung an den Senat genagelt werden.

    Übrigens, ich besitze einen Teil der Miniserie »Rom« von HBO, d.h. ich seh die nur aus einem Grund kritisch, der geschichtlichen Genauigkeit von damaligen Ereignissen, die in der Literatur damaliger Zeitzeugen doch etwas anders überliefert sind.

    Eigentlich sehe ich, als alte Leseratte — im positiven Sinne — jegliche TV-Produktion über geschichtliche Ereignisse, zur Unterhaltung des TV-Publikums, sehr kritisch. Vermute mal du siehst es ähnlich? Oder?

    Ich bin eben nicht für ein Verbot solcher Miniserien wie z.B. »Rom«, aber man sollte evtl. untertiteln, dass die HBO-Serie nur in Teilen der damaligen Realität entspricht, in anderen wiederrum gar nicht.

    Das Ende ist übrigens auch der Hammer, nach 2000 Jahren kann man ja viel behaupten, aber die Geschichtsschreibung überliefert, dass Cäsarion, der Sohn Cäsars, und kein unehelicher Balg eines röm. Legionärs, war, und das Cäsarion ermordet wurde, und nicht anonym weiterleben durfte.

    Wie schon gesagt, ich sehe nicht alles kritisch bei »Rom«, aber die geschichtliche Genauigkeit hat schon arg gelitten.

    Ich meine sogar im Netz was darüber gelesen zu haben? Vielleicht finde ich es noch ;-)

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

  5. Zu Folge 1 habe ich was gefunden:

    http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,492914,00.html

    ....die sehen es wohl ähnlich kritisch:

    »[...]Natürlich erinnert diese Weltmacht auch entfernt an Amerika, an seinen expansionistischen Drang und sein weltweites, nicht immer gelungenes militärisches Engagement. Die Dekadenzdiagnose hat man vergleichend oft USA und römischem Imperium gestellt, sie ist historisch zwar inakkurat, aber sehr plakativ. In popkultureller Logik jedoch sind Kaiser und Präsident tatsächlich verwandte Figuren: Beide erscheinen als Projektionsflächen für Helden- oder Schurkenphantasien, sie haben folkloristischen, ja mythischen Wert.[...]

    Das die USA sich selbst als Nachfolger »Roms« sahen, im George W. Bush-Größenwahn, dass schimmert in diesem SPIEGEL-Bericht noch durch.

    Die röm. Legionäre erinnern wirklich fatal — nicht an die historischen Vorbilder — sondern, zumindest Pullo und Verenus, an US-GIs.

    Soweit zur SPIEGEL-Kritik.

    Ich selbst schwanke, wie bereits geschrieben, einerseits eine gute Produktion, aber die geschichtliche Genauigkeit der damaligen politischen Verhältnisse läßt arg zu wünschen übrig. Der röm. Alltag wurde korrekt getroffen, aber sonst — im Bewertungsjargon Sternabzug ;-)

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

  6. Was die Dekadenz der Römer angeht, dass basiert wohl auf Mythen, die die ersten Christen, als diese Staatsmacht wurden, über »Rom« verbreiten durften.

    Hier mehr über die angebliche Dekadenz der Römer, und die Lügen der ersten Christen über den Untergang dieser Hochkultur:

    http://hpd.de/node/7530

    Überschrift »Requiem für die antike Kultur«

    Es gibt übrigens auch heute noch, wieder, fanatische Christen, die genau diese Zusammenhänge leugnen wollen, wie ich unter »Gefressene Kinder« von Roberto J. de Lapuente »ad Sinistram« selbst erfuhr.

    Gruß
    Nachdenkseiten-Leser

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