Neblige Frühe in der marschierend ich der Tages erste Magensättigung harre. Dabei denkend, sinnierend über Dinge, die mich und die Meinen, die jeden von uns betreffen. Betreffe, die uns die Epoche abtrotzt, die uns leiden lassen an einer vagen Ungewißheit am Zukünftigen; eine Ungewißheit, die so ungewiß nicht ist, denn sie deutet sich uns bedrückend und unmenschlich an. Was uns da erwartet in naher oder ferner Zukunft, ringt uns Ängstigung ab, weil die heutige Situation offenbar macht, dass alles was folgen mag, bittere Schlußfolgerung des tristen Heute sein wird. Nichts was wir heute an Eindrücken erhaschen, was wir in der Magengrube verspüren, kündigt sich als freudige Aussicht an, wohl aber als Sublimierung der Misere, als explosive Entladung einer an Hass erkrankten Gesellschaft.

Körperlich durch Nebelschwaden wandernd, geistig dem Alpdruck bekämpfend, passiere ich Kioske, an denen Gazetten feilgeboten werden, die mit reißerischen Schlagzeilen titeln. Wieder einmal hat man es auf die Ballastexistenzen abgesehen; wieder einmal sind es die Heere der Arbeitslosen, anwachsende Heere von Faulpelzen, über deren Lebensberechtigung man sich im Unklaren ist. Die Wirtschaftskrise, die uns in die Knochen gefahren ist, opfert Menschen, Familien, Zukunftspläne – aber als Opfer sieht man die Geopferten nicht; weil sie zum Opfer wurden, macht man sie zum Täter. Ihr Verschulden: Opfer geworden zu sein!

Stimmen in den nebelgeschwängerten Straßen der Stadt. Hinter mir? Vor mir? Ich vermag es nicht festzustellen, konzentriere mich aber auf das Gehörte, will verstehen was da anklingt. Über Kranke läßt man sich aus, über das Gesundheitswesen, welches immer teuerer wird, welches Menschen Hilfe zukommen lasse, die nie wieder im Dienste der Allgemeinheit stehen würden, die nie wieder Lohnarbeit tätigen können. Und über Pflegebedürftige weiß man auch zu berichten; über Pflegebedürftige, die wertvolle Ressourcen aus dem Fleisch des gesunden Teiles der Gesellschaft reißen. Der Mensch mit all seinem Leiden, dieses so stolze aufrechte Tier, das Wesen das sich selbst Bedeutung zumißt: es ist in diesen nebligen Wortfetzen zum ökonomischen Ballast degradiert.

Die Kälte des frühen Tages betäubt die Gesichtszüge. Bald werde ich am Orte des frischen Brotes sein, werde die Wärme der Bäckerstube kurze Zeit genießen. Aber einen solchen heimeligen Rückzug aus der sozialen Kälte gibt es nicht. Kann es immer nur bei der kühlen Aufrechnung der Kosten bleiben, wenn man von Arbeitslosen, Kranken, Behinderten und Alten spricht? Oder bergen solche Rechnungen nicht auch Taten, die irgendwann, wenn erstmal das Durchrechnen beendet ist, mit präziser Kaufmannsdisziplin vollzogen werden? Gibt es keine warme Stube für solche, die dieser fanatischen Wertschöpfungslehre hilflos ausgeliefert sind?

Alte Bäckerei

Schnell rinnt die Wärme durch die erkalteten Kleidungsstücke, das Brot duftet, die Bäckersgehilfin begegnet der Kundschaft freundlich. Ein Hort der Zivilisation mitten von blind machenden Nebelgardinen und eisigen Winden, hier läßt sich Mensch sein – während die Natur uns mit ihrer Unwirtlichkeit auf Distanz hält, läßt uns das menschliche Miteinander zueinanderstehen, macht die Zivilisation Unabhängigkeit von der Härte des Natürlichen möglich. Zivilisiert geben sich viele Menschen unserer Gesellschaft auch heute, in dieser Epoche der zugezogenen Geistesgardinen, in der soziale Eiseswinde durch die Bretter vor den Köpfen pfeifen. Manche versuchen mit unbändiger Kraft, die Würde eines jeden Menschen weiterhin als Wert aufrechtzuerhalten – einige von denen zieht es sogar in die Politik. Sie wollen die Zivilisation bewahren und sicherstellen, dass der Mensch niemals zum reinen Verrechnungsscheck wird; sie wollen eine große Bäckerstube errichten, in der jedermann sich wärmen kann, in der es für alle duftet und für alle Sättigung gibt. Aus welchem Grund auch immer man diese Motivation an den Tag legt, die verbretterten Jünger benennen solche als Kommunisten, als rotes Gesindel, welches gefährliche Lehren verbreitet. Selbst Humanisten und christlich geprägte Personen werden zu den roten Brigaden gerechnet, zu Verkündern höchst umstürzlerischer Dogmen.

Die Kälte umgarnt mich wieder, sie schneidet mir erneut ins Gesicht. Meine Gedanken sind noch frostiger. Wie kann man sich geistig wärmen, wenn man inmitten einer Gesellschaft lebt, in der jede Form von zivilisatorischen Miteinander zerschlagen wird? Wo soll man sich Hoffnung herholen, wenn selbst jeder mittelmäßige Laufbursche die Parolen der Verbretterten nachbetet? Kann man denn ernsthaft glauben, dass es beim Parolieren bleibt? Sind nicht zu Wort gewordene Gedanken immer Vorboten von zu Tat gewordenen Worten? Es drückt schwer auf das Gemüt, weil man deutlich spürt, dass dunkle Zeiten bevorstehen. Was da im Morgen harrt, das ist heute noch unmöglich zu bestimmen – aber dass uns etwas erwartet, etwas Grausiges und alle Zivilisation Verleugnendes, das ist gewiss. Wir gehen darauf zu, direkt und ohne erkennbare Umwege. Obwohl es neblig ist, wie an jenem frühen Tage, an dem Brot zu holen ich aufbrach, wandern wir in strenger Vorbestimmtheit einem nebulösen Ziele zu. Dort in fernen Nebelschwaden, so der erdrückende Gedanke der Angst, ist der Mensch eine Randerscheinung ökonomischen Betriebes, ein wertvolles Wesen nur, wenn er selbigen mittels seiner Arbeitskraft dienlich sein kann. Eine schwammige Gewißheit lähmt und läßt resignieren. Und die Vielen, die es nicht erkennen, die weiterwursteln ohne auf- und hinzusehen, so bleibt schmerzlich zu erwarten, werden die neuen Zeiten mit Jubel begrüßen, werden den Verblendungen jenes Momentes erliegen und den Führern der neuen Lehren die Schuhe küssen, auch und gerade dann, wenn man die Zivilsation dafür aufgeben muß...

Was meinen Sie damit? Zweitausendneun? Was wollen Sie mir damit sagen? Eine Jahreszahl? Das Jahr 2009? Was habe ich denn hier geschrieben, dass Sie auf solche abwegigen Ideen kommen? Ach herrje, ich ergieße mich hier in zahllosen Sätzen meiner Gefühlswelt, kehre mein Innerstes heraus, ohne zu merken, mit einem verrücktgewordenen Zeitgenossen zu tun zu haben. Einem versponnenen Futuristen, der glaubt, ich entwerfe eine Phantasiegeschichte einer fernen Zukunft. Das war keine Fiktion aus einer möglichen Zukunft! Haben Sie überhaupt begriffen, was ich da zu erklären versucht war? Unter diesen Umständen schreibe ich nicht weiter...

Ein Zukunftsverängstigter, Februar 1930


by roberto j. de lapuente


 

Für aktuelle Texte von Roberto besucht seinen Blog: ad sinistram.


 
Fotos:
Altstadtpflaster: fischde / photocase.com
Bäckerei: soulinger / photocase.com


zurück